Marina Egger betreut als Palliativ*-Krankenschwester Kinder und Jugendliche und deren Familien beim Abschiednehmen.

Ich habe einen sehr schönen Beruf“, sagt Marina Egger (de Natris) lächelnd. „Das können viele Leute gar nicht verstehen. Manche sind sogar schockiert, wenn ich das sage“, fügt sie hinzu. Das wiederum ist für mich nur allzu verständlich. Was – um Himmels Willen – kann schön daran sein, sterbende Kinder und ihre Eltern zu begleiten? Ich, selbst zweifache Mutter, kann es mir nicht vorstellen. Noch nicht.
Wenn Marina als Palliativ-Schwester in eine Familie gerufen wird, dann deshalb, weil ein Kind der Familie die Dia­gnose bekommen hat, dass es an einer unheilbaren Krankheit leidet und sterben wird. Marina kommt in solchen Fällen ins Krankenhaus oder – weit öfter – zur Familie nach Hause und klärt die Eltern über alles auf – über den erwarteten Verlauf, Medikation und vieles Weitere. Gemeinsam wird beispielsweise auch der Arztbrief, mit dem der kleine Patient oder die junge Patientin aus der Klinik entlassen wurde, noch einmal durchgesprochen. Für die Eltern ist Marinas erster Besuch meist unfassbar schmerzhaft: „Weil sie damit die unumstößliche Gewissheit haben, dass alles so kommen wird, wie die Ärzte gesagt haben“, sagt Marina. Für manche ist es, als würde mit ihr der Tod selbst bereits über die Schwelle treten. „Damit musste ich erst umgehen lernen.“

Immer im Sozialbereich

Schon als Kind trug Marina in den Freundschaftsbüchern ihrer KlassenkameradInnen als Berufswunsch „Säuglingsschwester“ ein. Ausgerechnet zu dieser Sparte entschloss sie sich dann nicht. Neben der Schule (sie besuchte die dreijährige Bundesfachschule für wirtschaftliche Berufe in Wörgl) arbeitete die heute 36-Jährige in der Gastronomie als Kellnerin, verdingte sich als Stockmädchen im Krankenhaus, half im Altersheim und beim Sozialsprengel, war Tagesmutter, absolvierte nach Abschluss der Schule die Ausbildung zur Familienhelferin und Behindertenbetreuerin und unterstützte lange Zeit Rettungsdienst und Krisenintervention, bevor sie umschwenkte auf ihren heutigen Beruf der diplomierten Kinder- und Jugend-Krankenschwester mit Zusatzausbildung Palliativ. Zehn Jahre lang wohnte sie in St. Johann und arbeitete ebenso lange im Krankenhaus St. Johann, zurzeit ist sie in Karenz und lebt mit ihrem Mann Philippe und Klein-Leo (ein Jahr alt) in Niederndorf. Viele ihrer KlientInnen sind im Raum St. Johann und Kitzbühel zuhause.

„Auf den Bereich Kinder-Palliativ kam ich eigentlich, weil ich im Altersheim gesehen habe, wie Menschen dort alleine – ohne ihre Familie – sterben. Das war für mich ganz schlimm. Bei Kindern ist das anders. Da ist ein ganzes Umfeld, da sind Tanten, Onkel, Cousinen, die alle mit- und zusammenhelfen, damit das Kind noch eine gute Zeit hat. Da helfe ich gerne und bin eine Stütze. So kann es einen schönen Abschluss geben“, erklärt Marina. Kann es diesen schönen Abschluss denn wirklich geben, wenn ein Kind stirbt?
„Ja“, sagt Marina, doch es seien langwierige Prozesse bis dahin. Prozesse, in denen sie das Kind, die Eltern und das gesamte Umfeld begleitet. Mit intensiven Gesprächen. Oder einfach nur durch ihr Da-Sein, wann immer es notwendig ist. Wie sagt man einem Kind, dass es sterben wird? „Die Kinder wissen es“, sagt Marina. Niemand müsse es ihnen sagen, sie spüren es. Manche Kinder haben einen ganz pragmatischen Zugang zum Tod und fragen zum Beispiel, wie sie denn aufs Klo gehen würden, wenn sie gestorben sind. Marina hat auf alle Fragen eine Antwort. Eine, die auch zum kulturellen Hintergrund der Familie passt. Ganz unabhängig von jenem aber stehen das Kind und seine Bedürfnisse im Vordergrund. Manchmal, wenn die Familie einverstanden ist, bringt Marina auch ihren vierbeinigen „Partner“ mit, „Kijani“. Der Australian Shepherd Rüde findet meist sehr schnell einen direkten Weg ins Herz der kleinen PatientInnen, lässt ihre Augen vor Glück aufleuchten und sie eine Zeitlang alles vergessen.

Vorbereiten auf den Abschied

Haben Kinder Angst vor dem Sterben? „Nein“, sagt Marina, so habe sie das noch nie erlebt und empfunden. „Wenn sie Angst haben, dann steckt meist etwas Anderes dahinter“, erklärt sie. „Dann fürchten sie sich, ihre Eltern zu enttäuschen oder davor, dass jene mit ihrem Tod nicht zurecht kommen, dass die Eltern ohne das Kind nicht leben können.“
Dem Abschied nähert sich Marina mit viel Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl, die ganze Familie wird einbezogen. Die Geschwister malen zum Beispiel ein Bild oder basteln etwas für den letzten Weg, man sucht einen Platz aus, den man aufsucht. Marina bespricht mit den kranken Kindern, was sie anziehen wollen, wenn es soweit ist, welche Musik bei der Bestattung gespielt wird, welches Stofftier mitkommen soll. Alle bringen sich auf ihre individuelle Art ein. „Das ist in gewisser Weise wie bei den Vorbereitungen für ein Fest. Das gemeinsame Tun tröstet, es webt ein Band, das die ganze Familie zusammenhält.“ Auch Marina gehört in dieser Zeit zur Familie. Sie bereitet die Eltern auf den letzten Atemzug ihres Lieblings vor. Wenn er getan ist, bleibt Marina bei ihnen, wäscht mit ihnen den Leichnam und hilft beim Ankleiden. Diese letzten Dienste sind von Trauer getragen, aber von noch mehr Liebe. „Es sind immer wahnsinnig ergreifende Momente. Man spricht über schöne Dinge, die die Familie gemeinsam erlebt hat. Über Erinnerungen, die bleiben. Diese letzten Stunden brennen sich in die Seelen aller ein. Sie sind voll Schmerz, aber auch voller Frieden und Schönheit.“
Wenn man den Prozess von Anfang an mit begleite, dann komme man gemeinsam irgendwann zu jenem Punkt, an dem es für alle passt, an dem alle loslassen können, so Marina. Die Kinder gehen dann zufrieden und glücklich. Und die Eltern haben einen wichtigen Teil der Trauerarbeit geleistet. Die Verbindung ist oft so eng, dass Marina mit der Familie auch nach dem Tod des Kindes noch Kontakt hält.

Mutter-Sein ist nicht immer leicht

Fünfzehn Kinder hat Marina inzwischen begleitet. Das jüngste Kind war zwei Monate alt, das älteste zwölf Jahre. Nur sehr wenige Krankenschwestern wollen und können diesen schweren Weg mit den Familien mitgehen, schon gar nicht, wenn sie eigene Kinder haben. Nun ist Marina selbst Mutter geworden. Wird sich dadurch etwas ändern? Das glaube sie nicht, sagt sie. Nach der Karenzzeit wolle sie ihre Arbeit auf jeden Fall wieder aufnehmen. Weil es ja jemanden brauche, der für die Familien da sei.
Leicht sei das Muttersein für Krankenschwestern generell nicht – weil man so viel über mögliche Krankheiten wisse. „Wenn ein Baby schreit, denken die meisten an Winde und Bauchweh – bei Leo dachte ich an Darmverschluss. Als er einmal umfiel und sich den Kopf stieß, ging ich davon aus, dass er eine Hirnblutung haben könnte. Als Krankenschwester denkt man an das Schlimmste. Da muss ich noch hineinwachsen.“ Sie lacht.
Vielleicht muss sie wirklich noch hineinwachsen. In der Palliativbetreuung von Kindern und Jugendlichen aber ist Marina längst über sich hinausgewachsen. Unglaublich, welch große innere Kraft in dieser zarten Person steckt. Und wie viel Trost und innere Heilung ihr Tun bringt. Danke dafür, liebe Marina.

Doris Martinz

 

* Als palliative Therapie bezeichnet man eine medizinische Behandlung, die nicht auf die Heilung einer Erkrankung abzielt, sondern darauf, die Symptome zu lindern oder sonstige nachteilige Folgen zu reduzieren (Palliation), um die Lebensqualität zu verbessern.