Eva-Maria Jöchl erzählt von ihrer Zeit als Olympionikin, von Enttäuschungen und dem, was für sie vieles relativiert.
Sie winkt mir zu, als ich mich unschlüssig umsehe. Da ist sie ja – eine hübsche junge Frau mit schulterlangem, blondem Haar und blauen Augen, sportlich-schlank, quirlig und bester Laune. Eva-Maria – kurz Eva genannt – und ich genießen, nachdem wir uns gefunden haben, in der Frühlingssonne vor dem Café Rainer einen Kaffee. Sie erzählt aus ihrem Leben, von stressigen Zeiten, die gerade hinter ihr liegen und natürlich von ihrer Teilnahme an den Paralympics in Peking im März. Eva ist zum Glück eine jener Gesprächspartnerinnen, die von sich aus drauflos erzählen, die schildernd und in bunten Farben beschreiben. Dass die 26-jährige St. Johannerin seit ihrer Geburt nur einen Arm hat, fällt nur dann auf, wenn sie reflexartig den leeren linken Ärmel ihres Pullovers mit einer flinken Handbewegung dreht und zwischen sich und die Seitenlehne des Stuhls steckt. Er rutscht immer wieder heraus.
Eine Siedlung wie eine Familie
„Ich fühle mich selbst nicht als behindert und bezeichne mich auch nicht so“, sagt Eva selbstbewusst. Sie und ihre ältere Schwester Karina wachsen am „Taxaweg“ in St. Johann auf, gemeinsam mit vielen anderen Kindern in der Nachbarschaft. Als „cooles Umfeld“ bezeichnet Eva diese Gemeinschaft, die sie prägt. Inzwischen sind die meisten von den damaligen Kids ausgeflogen, in alle Winde zerstreut. Aber einmal im Jahr, zu Weihnachten, trifft man sich wieder – wie in einer großen Familie. Letztes Mal, so erzählt Eva lachend, haben Freunde zum ersten Mal ihren Nachwuchs mitgebracht.
Immer gab es in ihren eigenen Kindertagen jemanden, der sie verteidigte, wenn es darauf ankam. Aber sie sei keine gewesen, die nur einstecken musste, sondern habe auch selber ausgeteilt, gesteht sie schmunzelnd. Nur als die Berufswahl anstand, war der fehlende Arm ein Problem. Eva wollte nämlich Malerin und Anstreicherin werden und dafür die dreijährige HTL Bau und Design absolvieren. Das blieb ihr verwehrt – Eltern und Ausbilder sahen den Beruf als zu gefährlich an. Stattdessen belegte Eva schließlich an der HTL den Ausbildungszweig Grafik- und Kommunikationsdesign. Im Nachhinein gesehen, sei das wohl die bessere Lösung gewesen, meint sie. Nach der Schule arbeitet sie zunächst als Grafikerin in einer Werbeagentur in der Region, macht sich aber mit ihrer eigenen Agentur bald selbständig.
Irgendwie fehlt Eva damals nach Abschluss der Ausbildung ein neues Ziel. „Und da dachte ich mir, probiere ich es halt einmal mit Ski-Rennfahren für Menschen mit Behinderung.“ Wenn man in St. Johann aufwächst, dann kann man nämlich Skifahren, und zwar „g’scheit“. „Man ist in der Früh im ersten Skibus gesessen, das war ein ungeschriebenes Gesetz“, erinnert sich Eva. Das galt auch für jene, die – wie sie selbst – nie einem Skiclub angehörten. (Als Skirennläuferin ist Eva nun Mitglied des Kitzbüheler Skiclubs und wird durch den Club massiv unterstützt.)
Aufstieg und Bremse
Auf ihre Anfrage hin verweist man Eva beim ÖSV damals an den Landeskader. Danach geht alles ganz schnell: Eva wird sofort aufgenommen, steht bei ihrem ersten Europacup-Rennen schon auf dem Stockerl und entwickelt sich zur großen Hoffnung für die Paralympics in Südkorea. Aber dann, vor vier Jahren: ein Sturz, bei dem sie sich beide Knie verletzt. Er bremst den steilen Aufstieg abrupt. Die Knie verheilen, aber der Kopf bleibt blockiert, Angst vor der Geschwindigkeit schleicht sich ein. Das Skifahren rückt in den Hintergrund und es gibt viele Momente, in denen Eva ganz ans Aufhören denkt. Und doch nimmt sie ein Wirtschaftsstudium mit Schwerpunkt Sport auf, um mehr Zeit für das Training zu haben. Referenten, Freunde und Familie raten ihr weiterzumachen. Und dann rücken schon die nächsten Olympischen Spiele näher: Peking. „Das würde mich schon noch einmal jucken“, denkt sich Eva, und wirklich, sie schafft die Qualifikation. Und das, obwohl sie inzwischen in Halbzeit als Projektmanagerin in einer IT-Firma arbeitet, die andere Hälfte des Tages selbständig werkt und daneben einen Coworking Space in Rum aufbaut.
Auf nach Peking!
Mit ihrem Freund Mario Graus wohnt Eva seit ein paar Jahren in Mils. Sie hat Mario beim Skifahren in der Rehabilitationsphase kennengelernt. Mario ist nach einem Unfall mit dem Drachenflieger auf den Rollstuhl angewiesen. Auch er motiviert sie, dem Skisport treu zu bleiben und unterstützt sie mental bei der Qualifikation zu den Paralympics. Einen Tag vor Weihnachten 2021 steht dann so gut wie fest, dass Eva dabei sein wird. „Wahnsinn!“
Die Olympischen Spiele sind ein Riesenabenteuer. „Eigentlich fängt es schon mit der Einkleidung an“, erinnert sich Eva. Man fühle sich wie ein Superstar, wenn Maß genommen wird für das passende Outfit. Dann die Verabschiedung durch den Bundespräsidenten, die lange und anstrengende Anreise, der unglaublich nette Empfang im Olympischen Dorf … „So viele Leute organisieren für einen, überall sind Menschen, die einem helfen, man baut Kontakte zu den anderen Nationen auf, kann sich ganz auf das Training und die Vorbereitung auf die Rennen konzentrieren, … das ist schon alles unglaublich toll.“
Eva weiß, dass sie als „Underdog“ in die Rennen geht, ihre Erwartungen sind nicht allzu hoch. Dass das Aus beim Riesentorlauf schon beim fünften Tor kommt, enttäuscht sie dann aber doch sehr – die Bindung geht auf. Auch am nächsten Tag beim Slalom läuft es nicht besser, Eva fädelt ein. „Das war so schade, denn ich bin noch nie gegen die ganze Weltelite gefahren. Für mich und meinen Trainer wäre es interessant gewesen zu sehen, wo ich mich einordnen kann. Das hat mir auch für ihn leid getan.“ Ihr Leben verändere sich nicht, ob sie nun als Fünfzehnte auf einer Ergebnisliste zu finden sei oder gar nicht aufscheine, aber sie hätte gerne wenigstens einmal das Ziel gesehen, sagt Eva sichtlich betroffen. So ganz ist die Enttäuschung noch nicht überwunden.
Karriereende mit Fragezeichen
Dennoch wird Eva Peking als unglaubliches Abenteuer mit vielen positiven Aspekten in Erinnerung bewahren. Auch deshalb, weil sie als Olympionikin wirklich wie ein Superstar behandelt wurde. Eine völlig neue Erfahrung, denn bei den Rennen, die sie sonst fährt, sind oft nur die Teams und vielleicht einige Familienmitglieder anwesend. „Wir rutschen halt runter und dann ist es vorbei. Parasport ist kein Format, das die Leute interessiert, Behinderung immer noch ein Tabuthema.“ Eva ist im Präsidium des Tiroler Behindertensportvereins vertreten. Dort arbeitet man daran, die Thematik den Menschen näher zu bringen. „Es hat sich eh schon viel getan, die Berichterstattung über die Paralympics war super. Aber es gibt noch viel zu tun“, sagt Eva.
Hängt sie ihre Skier jetzt an den Nagel? Sie antwortet nicht gleich, sondern schmunzelt in sich hinein. Dann rückt sie mit der Sprache heraus: „Cortina in vier Jahren würde mich vielleicht schon noch reizen!“ Vom Alter her ginge es sich aus. Aber jetzt nimmt sich die St. Johannerin erst einmal ein Jahr Auszeit vom Skisport. Es gibt ja auch noch eine weitere sportliche Disziplin, bei der sie aktiv ist: beim Segeln.
Staatsmeisterin im Segeln
Eva ist durch Mario aufs Segeln gekommen – eine freie Sportart, in der Männer und Frauen gegeneinander antreten und auch Behinderte gegen Nichtbehinderte. „Ja, und ich bin sogar Staatsmeisterin geworden“, sagt Eva fast entschuldigend. Sie hat ihren Liebsten bei der Staatsmeisterschaft nämlich hinter sich gelassen, Mario ist Dritter geworden.
Wie sieht der Alltag der beiden eigentlich aus, wie kommen sie zurecht? Ganz einfach kann es nicht sein. Denn Mario braucht Hilfe, und Eva hat nun einmal nur einen Arm. „Am Anfang hatten wir auch Bedenken, ob wir das schaffen“, gesteht Eva. Aber es geht, gemeinsam haben die beiden noch jede Herausforderung gemeistert. Beim Segeln baut Eva beide Boote auf und richtet alles her.
„Sonst war ich immer diejenige, der geholfen werden hätte sollen, jetzt bin ich die Helfende.
Vielleicht tut mir das gut. Aber nach außen hin wirkt es oft einfacher, als es ist.“
Auch Mario ist sehr sportlich, Eva und er sind viel draußen unterwegs. Beim Segeln in ihren Booten, die für ihre Bedürfnisse umgebaut wurden, verfolgen beide unterschiedliche Strategien und Taktiken. Gemeinsam in einem Boot zu segeln, danach steht Eva nicht der Sinn: „Ich glaube, da würden wir uns in die Haare kriegen“, lacht sie.
Eva kann mit ihrer (Nicht-)Behinderung gut umgehen. Die Knieverletzung oder das frühe Aus bei den Olympischen Spielen werfen sie nicht aus der Bahn. Denn alles ist relativ. Als Eva 21 Jahre alt war, starb ihr Vater. „Ich kann gut damit umgehen, aber wenn man so etwas erlebt oder wenn man sich Marios Situation vor Augen hält, dann sind andere Sachen nicht so schlimm.“ Deshalb bleibt sie positiv und motiviert. Das Lebensglück hängt für sie auch mit der eigenen Einstellung zusammen: Wie sehr man sich von Schicksalsschlägen beeinflussen lässt, könne man bis zu einem gewissen Grad für sich selbst entscheiden, meint sie. „Ich habe mich entschlossen, ein gutes Leben zu führen, und das mache ich auch.“ Evas Augen leuchten, sie blinzelt in die Frühlingssonne. Sie greift nach dem leeren Ärmel an ihrer linken Seite und steckt ihn zwischen sich und die Stuhllehne. So quirlig und lebhaft, wie sie weiter erzählt, hält er sich dort nicht lange …
Doris Martinz