Der Ukrainer Pavel Musiyenko lebt seit 21 Jahren in Österreich, seit 2010 wieder in St. Johann. Seine Gedanken zum Krieg und seine ganz persönlichen Dramen.

Pavel lebt bei uns, er ist in Sicherheit. Doch weite Teile von Pavels Heimatstadt Tschernihiw im Norden des Landes an der Grenze zu Russland sind in Schutt und Asche gelegt. Er konnte die Rettung seines Vaters organisieren. Die Freunde von früher und Teile der Familie sind noch drüben, im Krieg; die Männer dürfen nicht ausreisen. Er ist eigentlich ein positiver, fröhlicher Mensch. Doch der 24. Februar 2022 hat ihn verändert.
Seitdem die ersten ukrainischen Flüchtlinge in St. Johann eingetroffen sind, hilft ihnen Pavel. Er übersetzt, organisiert und koordiniert soweit er kann. Niemand weiß besser als er, dass es „ganz normale“ Leute sind, die bei uns Schutz suchen. Dass diese Flüchtlinge Familie hatten, Freunde, Berufe, Hobbys, ein Leben. Und dass viele von ihnen in Panik aus ihren Wohnungen und Häusern flohen, nur einen Koffer mit dem Notwendigsten in der Hand – oder auch nur mit dem, was sie gerade am Leibe trugen. Jeder von ihnen könnte Pavels Freund oder eine Freundin von früher sein. Als er 18 Jahre alt war, besuchte er seine Mutter in St. Johann, die nach der Scheidung von seinem Vater schon einige Jahre hier lebte. Auch seine ältere Schwester wohnte bei ihr. Der heute 39-Jährige erinnert sich daran, wie er sich darüber wunderte, dass die Leute ihn, den Fremden, auf der Straße grüßten. Das kannte er von Tschernihiw, einer Stadt mit zirka 300.000 EinwohnerInnen, natürlich nicht. Die Berge, die Sauberkeit, das alles gefiel ihm. Aus dem geplanten 14-tägigen Besuch wurden Monate, schließlich blieb er. Doch die Marktgemeinde war dem jungen Pavel auf Dauer zu klein, er ging nach Wien. Dort arbeitete er in der Gastronomie und eröffnete schließlich gemeinsam mit seiner Freundin ein eigenes Café. Aufgrund der schwierigen Lage nach der Weltfinanzkrise beschloss er 2010, seinen Betrieb zu schließen, er kam zurück nach St. Johann. Pavel ist jetzt Kesselwart für die Ortswärme bei der Firma Egger, der Job gefällt ihm. Nur die Nachtdienste machen ihm zu schaffen. Er ist geschieden, hat aber zu seiner ehemaligen Frau und vor allem zu den beiden gemeinsamen Kindern Matthias, fünf Jahre, und Sophie, drei Jahre alt, eine enge und liebevolle Verbindung.

Papas Bauchgefühl

Auch den Kontakt zu seinem Vater in der Ukraine ließ er nie abreißen. Sein Papa habe seit Herbst 2021 gespürt, dass die Russen Ernst machen, erzählt Pavel. Er selbst habe ihn beruhigt und gesagt, dass die Lage doch seit vielen Jahren angespannt sei, was sollte sich geändert haben? Doch Pavels Vater ließ nicht locker und bat ihn immer wieder inständig, ihm ein Flugticket zu besorgen und ihn aus dem Land hinauszubringen. „Er hat wohl ein Bauchgefühl gehabt“, meint Pavel. Das Ticket wurde schließlich gekauft und für Freitag, den 25. Februar ausgestellt. Am Donnerstag, den 24.2., überfielen die Russen das Land und bald auch Tschernihiw, an einen Flug war nicht mehr zu denken. Pavels Vater, selbst Zeit seines Lebens Musiker, suchte vor den Bombardierungen Schutz im Keller der Musikschule. „Gemeinsam mit 30 anderen Leuten harrte er tagelang dort aus, ohne Wasser, und auch zu Essen gab es fast nichts.“ Dass Pavels Vater flüchten konnte, ist einem besonderen Umstand zu verdanken: Ein Schulkamerad Pavels lebte in den letzten Jahrzehnten in Italien und hatte beschlossen, sich ein Haus in der Heimat zu bauen. Die ganze Familie befand sich in der Ukraine, als der Krieg begann. Pavels Jugendfreund beschloss, seine Lieben mit dem Auto quer durch das ganze Land an die rumänische Grenze zu bringen, von wo aus sie nach Italien zurückkehren sollten. Ihm selbst blieb die Ausreise verwehrt, aber Pavels Vater und dessen zweite Frau konnten im Auto mitfahren. Es war ein waghalsiges, gefährliches Unterfangen, aber es gelang; Pavel konnte seinen Vater an der Grenze in Empfang nehmen und der Familie seines Freundes bei der Reise nach Italien helfen. Pavels Vater lebt heute in Deutschland beim Sohn seiner Frau.

Urlaubsende mit Schrecken

Ein weiterer Freund Pavels aus Jugendtagen flog mit seiner Familie am 23. Februar in den Urlaub nach Ägypten – nicht damit rechnend, dass die Russen tatsächlich angreifen würden. Eine Rückkehr nach Hause war nach Kriegsbeginn ausgeschlossen; Vater, Mutter und Kind wohnten eine Weile bei Pavel, inzwischen haben sie eine eigene Wohnung in St. Johann bezogen und Arbeit gefunden. Pavels Freund hat den Beruf des Elektrikers gelernt und besaß in Tschernihiw eine eigene Autowerkstatt. Er war Geschäftsmann, jetzt arbeitet er als Elektriker bei der Firma Egger – dank Pavels Hilfe. Seine Werkstatt gibt es nicht mehr, sie wurde von russischen Bomben zerstört.

Pavel wollte heuer seinen Kindern seine Heimatstadt zeigen. „Es war eine schöne Stadt, alles war schon geplant. Aber die Videos, die mir meine Freunde nun zeigen, sind furchtbar, vieles ist zerstört. Aber die Wirklichkeit, so sagen sie, ist noch viel schlimmer. Da können einem die Tränen kommen“, sagt Pavel und schluckt mehrmals. Ein Schwager Pavels, der in Transnistrien* lebt – der Taufpate seiner Kinder – beschimpfte ihn am Telefon und warf ihm vor, dass die ukrainische Armee die Städte selber bombardieren würde. „Er sagt, wir sind alle Nazis.“ Pavel hat den Kontakt zu ihm abgebrochen, die Freundschaft ist auf Eis gelegt. Wenn sogar nahestehende Freunde von Pavel Putins Propaganda Glauben schenken, warum sollte es bei jenen anders sein, die keine Kontakte in den Westen haben?

Es kann keinen Kompromiss geben

Wie steht Pavel zu Präsident Selensky? Hat er die richtigen Entscheidungen getroffen, oder hätte er vielleicht einen Kompromiss mit den Russen schließen müssen, um den Krieg zu vermeiden? „Schau, das ist so“, erklärt Pavel, „wie wenn ich zu dir nach Hause komme und sage, dass du ab heute dein Schlafzimmer nicht mehr benützen darfst, weil es jetzt mir gehört. Du kannst dich in der Küche aufhalten oder im Wohnzimmer, aber das Schlafzimmer ist für dich tabu. Könntest du mit diesem Kompromiss leben?“ Mit Ausnahme der Separatisten wollen die Leute in den umkämpften Gebieten nicht zu Russland gehören. Auch dann nicht, wenn sie – wie Pavel selbst – im Alltag Russisch sprechen. „Wir sind Ukrainer, wir wollen selbst entscheiden, in welche Richtung sich das Land entwickelt!“ Pavel hat noch die Worte seines Opas im Ohr, der mit 96 Jahren verstarb, und dessen ganze Familie von Stalins Schergen ausgelöscht wurde: „Solange es die Russen gibt, werden wir unter den Russen zu leiden haben!“

Die Sprache ist wichtig

Nicht alle UkrainerInnen, die sich bei uns aufhalten, sind unfehlbar und benehmen sich vorbildlich. Manche von ihnen kommen nicht in die Gänge und tun sich schwer damit, auf eigenen Füßen zu stehen. Oft sind es jene, die daheim in kleinen Dörfern lebten. Pavel drängt sie, Deutsch zu lernen. Die meisten wollen und tun das auch.
Es gibt zudem auch wenige finanziell sehr gut gestellte Ukrainer, die den Weg nach St. Johann gefunden haben. Für sie ist die Marktgemeinde nicht der Platz, den sie sich zum Leben wünschen, sondern ein Durchzugsort. Pavel ist nicht traurig darüber. Er hilft lieber jenen, die seine Unterstützung brauchen. Denn er weiß, wie es ist, sich unter Menschen aufzuhalten, deren Sprache man nicht versteht. „Als ich nach Österreich kam, hab ich nicht gewusst, wo der Anfang und das Ende eines Wortes ist.“ Er setzte alles daran, schnell und gut Deutsch zu sprechen. Das erwartet er auch von seinen Landsleuten.
Selbst Pavels Vater muss nun mit seinen 67 Jahren die Schulbank drücken. Er hätte nie gedacht, dass das einmal notwendig sein würde. Der Krieg nimmt keine Rücksicht darauf. Auch nicht auf Menschen, die sich in höchster Not in Kellern verstecken, ohne Wasser und ohne Windeln für die Babys. „Was das bedeutet, weiß man erst, wenn man es selbst erlebt hat – wie mein Vater. Wenn man in diesem Dreck und Gestank einige Tage verbracht hat.“ Der Hass der UkrainerInnen auf die Russen wächst. Doch Pavel weiß: „Man darf nicht alle Russinnen und Russen in einen Topf werfen.“ Seine Hoffnung, dass man sich vielleicht eines Tages wieder die Hand reichen kann, lebt. Sie lebt noch.

Doris Martinz

*Transnistrien liegt zwischen der Republik Moldau und der Ukraine, wird international nicht als souveräner Staat anerkannt, von Russland aber unterstützt.