Tanzpädagoge Carsten Lumière Sasse spricht über seine Arbeit, über sein „Glücksglas“, schwierige Momente und mehr.
Wenn die Austria Tanz Akademie in St. Johann zur Aufführung lädt oder beim „Dance Alps Festival“ internationale Größen zeigen, wie wunderbar Tanz sein kann, ist er meist mit seiner Kamera dabei. Er huscht von hier nach dort, geschmeidig wie eine Katze. Er kniet am Boden und steht plötzlich auf einem Stuhl, ist überall und nirgends. Und dann wieder auf der Bühne, wie zuletzt bei einer Veranstaltung im „Kunstwerk“ in St. Johann. Bei unserem Gespräch im Café Rainer jedoch kann ich ihn „dingfest“ machen – endlich. Carsten Lumière Sasse erzählt ein wenig von sich selbst, er wirkt fast schüchtern. Der erfahrene Künstler, der schon so oft vor großem Publikum getanzt hat, wird doch wohl nicht unsicher oder gar verlegen sein? „Eigentlich bin ich ziemlich introvertiert, nur auf der Bühne bin ich ein anderer“, meint er und rutscht ein wenig auf seinem Stuhl herum. Mein Herz hat er ab diesem Zeitpunkt bereits gewonnen.
Michael Jackson erweckt ein Talent
Carsten wächst auf dem Land in Unna, Deutschland, in einer „ganz normalen“ Familie auf. Er hat wenige Freunde, lebt gerne in seiner Fantasiewelt und verkriecht sich hinter Büchern. Ihn gegen seinen Willen an die frische Luft zu schicken, gibt die Mutter irgendwann auf. Er ist 15 Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Video von Michael Jackson sieht – „es schlägt ein wie eine Bombe“, wie er selbst sagt. Carsten ist fasziniert von den Bewegungen im Video „Beat It“, er spult die VHS-Kassette immer wieder vor und zurück, analysiert die Tanzschritte und ahmt sie nach. Nach dem Abschlussball der Schule, bei dem er eine Jazzformation bewunderte, meldet er sich in der Tanzschule an – im Fortgeschrittenenkurs für Jazztanz, schließlich hat er die „Jackson-Moves“ drauf. Als sich bei den ersten Tanzschritten fast seine Füße verknoten, ist klar, dass er „zurück auf Anfang“ muss. Es stört ihn nicht. Nach der ersten „richtigen“ Jazztanzstunde radelt er singend nach Hause und weiß: das ist es! Ein Jahr später, Carsten ist 17 Jahre alt, absolviert er seine erste richtige klassische Ballettstunde. Seine Hüfte ist längst vollständig entwickelt. Er weiß, dass er nie die notwendige Beweglichkeit erreichen wird, die es für die absolute Spitze braucht – und macht dennoch weiter.
Sein Umfeld ist natürlich irritiert, tanzende Jungs sind nicht alltäglich. „Es war schon ein wenig schwierig damals, aber es hieß immer schon ,Carsten gegen den Rest der Welt‘, ich war immer der Außenseiter und versuchte, meinen eigenen Weg zu gehen“, erzählt Carsten. Auch den Eltern zuliebe, die sich wünschen, dass ihr Sohn eine gute Ausbildung absolviert und später mal einen „ordentlichen“ Beruf ausübt, beginnt er ein Psychologiestudium in Münster.
Beim hiesigen Hochschulsport werden Jazztanzkurse abgehalten, Carsten ist immer dabei. Dann hört die Dozentin auf, und es heißt, Carsten solle an ihre Stelle treten. Ohne spezielle Ausbildung ist er plötzlich Tanzlehrer – und entsprechend nervös: „Vor den ersten Stunden hatte ich Magenschmerzen und Angst, dass niemand meine Choreografien mögen wird. Aber das Feedback war positiv, und ich fand schnell Gefallen am Unterrichten.“ Das ging einige Jahre so, bis eine Ballettlehrerin eines Tages zu ihm sagte: „Herr Sasse, was machen Sie denn noch hier in Münster, Sie versauern doch bei diesem Studium. Machen Sie doch die Aufnahmeprüfung und gehen Sie nach Arnhem (NL) in die Tanzakademie!“ Und genau das machte Carsten. Er schaffte die Aufnahmeprüfung auf Anhieb und schrieb sich für die Sparte Pädagogik ein. Damit konnten schließlich auch seine Eltern leben. „Pädagogik, Lehrer, das ist was Sicheres!“ Das Psychologiestudium war schnell vergessen.
Von Amsterdam nach St. Johann
15 Jahre lang lebt Carsten in den Niederlanden, davon sechs Jahre in Amsterdam. Er absolviert die Ausbildung und arbeitet in der Folge an Projekten mit Choreografen, an einem Tanztheater für Kinder und bei Castings für Tanz-Wettbewerbe. Selbst nimmt er an letzteren kaum teil, denn „da muss man mit Ellenbogen arbeiten, und das ist nicht mein Ding. Ich brauche mehr menschliche Wärme im Leben.“
Als Lernender nimmt er mehrmals an einem Sommer-Tanzcamp in Salzburg teil und lernt hier Beate Stibig-Nikkanen kennen, die Gründerin der Austria Tanz Akademie in St. Johann. Als sie erfährt, dass Carsten auch unterrichtet und sich eine örtliche Veränderung wünscht, beschließt sie, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen – Projekte, die für ihn passen, hat sie ja genug. Am 15. November 2012 steht Carsten mit zwei Koffern, Reisetasche und Rucksack vor der Pension Elfi und denkt sich „ist das geil hier“. „Die ganzen Gerüche, das Holz, die Wiese, die Berge, das war einfach nur fantastisch für mich. Und ist es immer noch.“ Inzwischen unterrichtet Carsten an der Austria Tanz Akademie und in der Tiroler Ballettschule in St. Johann „und ich habe das Gefühl, dass ich richtig angekommen bin.“
Hier findet er auch die menschliche Wärme, die er in den Niederlanden oft vermisst hat. „Beate ist meine Tiroler Mama, meine Ersatzmama.“ Sie hilft ihm auch, sich zu organisieren. Ihm selbst fällt das schwer, denn „ich bin zu einhundert Prozent Künstler und kein Geschäftsmann. Organisieren, promoten und netzwerken, das ist alles schwierig für mich. Hier in St. Johann kann ich mich auf meine Fähigkeiten konzentrieren und mich ausleben.“ Das tut er nicht nur in tänzerischer Hinsicht, sondern auch beim Fotografieren und Gitarrespielen. Beides hat er sich autodidaktisch angeeignet. Inzwischen unterrichtet Carsten sogar an der Volkshochschule St. Johann Gitarre.
Was immer er tut: Alles hängt irgendwie mit Kunst, mit Tanz, Fotografie oder Musik zusammen. „Ich muss was Künstlerisches machen, sonst gehe ich ein“, gesteht Carsten.
Nichts geht ohne Unterricht
Als ich den bald 49-Jährigen frage, was das Tanzen für ihn bedeutet, kommt er zu der – auch für ihn, wie er sagt, erstaunlichen – Erkenntnis, dass er ohne Tanz leben könnte, nicht aber ohne das Unterrichten. Am schönsten sind für ihn die Freitage, da ist in der Tanzschule besonders viel los, sie sind für ihn die „Partytage“. Aus der Begeisterung seiner Schüler – auch für seine Choreografien – bezieht er seine Energie. „Wenn die Leute so Gas geben, ist das für mich wie ein Adrenalinkick. Ich brauche die Bühne nicht mehr, das Studio ist meine Bühne. Und die Studenten sind das Publikum, so könnte man es sagen.“ Nur hin und wieder sieht man ihn noch selbst im Scheinwerferlicht.
Carsten ist viel in St. Johann unterwegs, er wohnt jedoch in einer Wohnung in Pfaffenschwendt. Alleine. Als ich ihn frage, ob er sich nicht eine Beziehung wünscht, wehrt er mit beiden Händen ab. „Nein, nein, das ist nicht mehr mein Ding!“ Zu oft sei sein Herz zerbrochen, meint er. Er erzählt ein wenig von einer großen Liebe in Griechenland, seiner „Seelenverwandten“ und „Zwillingsseele“, die dann aber nicht den gemeinsamen, sondern einen anderen Weg einschlug. „Heftige Choreografien“ waren seine Therapie – ein Privileg des Künstlers.
Weitere schwierige Momente in Carstens Leben stehen in Zusammenhang mit dem Tod seines Vaters, der auf einer Party beim Tanzen plötzlich zusammenbrach und verstarb. Er wurde keine 60 Jahre alt. „Es hätte doch noch viel gegeben, das ich ihm hätte sagen wollen“, meint Carsten nachdenklich. Die Beziehung zu ihm sei oft schwierig gewesen, aber ein paar sehr wertvolle Momente bleiben in Erinnerung. Den Moment, in dem ihn der Vater nach einer Tanzaufführung, bei der Carsten den „Prinz“ getanzt hatte, in den Arm nahm, ihm sagte, wie stolz er auf ihn sei und ihn fest an sich drückte, bleibt für immer in Gedächtnis und Herz verwahrt – wie ein Schatz. Zu seiner Mutter hält Carsten eine enge Verbindung – wenn auch hauptsächlich übers Internet: Jeden Montag ist Zoom-Fixtermin: Über App und Laptop verfolgen Carsten, seine Mutter und ihr neuer Lebenspartner gemeinsam die „Millionenshow“ mit Günther Jauch und rätseln eifrig mit. Und für den Alltag hat Carsten ja „Ersatzmama“ Beate. Mit ihr, ihrem Sohn Timo und ein paar wenigen guten Freunden erlebt Carsten viele schöne Momente – das Glas sei schon proppenvoll, sagt Carsten. Welches Glas? „Jeden besonderen Moment notiere ich auf einen Zettel, den ich in ein großes Glas stecke“, erklärt der Tanz- und Gitarrenlehrer. Eine schöne Idee, finde ich und beschließe im selben Moment, mir irgendwann auch so ein Glas zuzulegen.
Ich genieße es sehr, mich mit Carsten zu unterhalten – mit dieser feinfühligen Künstlerseele, der alles Berechnende fremd scheint. Mit diesem Mann, der offen zugibt, dass er nicht „nah am Wasser“, sondern „unter Wasser“ gebaut sei und schon bei „Findet Dorie“ weine, worüber wir herzlich lachen. Er steht zu seinen Emotionen und zu seinen „Mankos“, wenn man sie denn als solche sehen will. Manchmal fühlt sich Carsten nämlich „unterfordert“, er würde gerne mehr arbeiten. Es würde ihn zum Beispiel reizen, Tanz-Workshops in südlichen Gefilden abzuhalten und dies mit Fotografie- und Gitarrenprojekten zu verbinden. Aber das selbst anzugehen, ein Programm auszuarbeiten und zu vermarkten, das ist nicht sein Ding. „Ich liebe, was ich mache, kann es aber schlecht an die Leute bringen, dieses Talent fehlt mir“, gibt er zu. Vielleicht findet sich ja jemand, der genau das kann und Lust darauf hat, mit Carsten etwas außerhalb Österreichs auf die Beine zu stellen?
Doris Martinz
Schaut einmal rein, was Carsten alles treibt auf www.moving-visual-artist.com