Eine ukrainische Familie zwischen Vermissen, Hoffen und Liebe zur neuen Heimat auf Zeit.
Als sie vor gut einem Jahr in ihrer Unterkunft eintrafen, waren ihre Gesichter kaum zu sehen, so tief ließen sie ihre Köpfe hängen. Heute lächeln mich Sviatoslaw, „Sviato“, 15 Jahre alt, und sein Bruder Dima, 11 Jahre, bei unserem Treffen schüchtern an. Das tut auch ihre Mutter Viktoriia Dyrda, 42. Sie verließ mit ihren beiden Söhnen im März letzten Jahres ihre Heimatstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine – bald, nachdem Russland seinen Angriffskrieg gestartet hatte. Rund die Hälfte aller Hochhäuser der Stadt, die zuvor zwei Millionen Einwohner zählte, sind inzwischen zerstört. Das Haus, in dem Viktoriia mit ihrer Familie lebte, steht aber noch, so ist zumindest die aktuelle Situation. Und der Vater der Buben? „Er hat in Ukraine geblieben“, sagt Dima und wird prompt von seinem größeren Bruder korrigiert: „Er ist in der Ukraine geblieben, er darf nicht ausreisen.“ Sviato spricht schon gut Deutsch, auch Dima versteht mich bei unserem Gespräch gut. Am schwersten tut sich naturgemäß Viktoriia mit der für sie fremden Sprache, sie nickt etwas gequält. Die Großeltern der Buben leben in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine, sie sind zu tief mit der Heimat verwurzelt, nichts könnte sie von daheim wegbringen – nicht einmal todbringende Bomben.
Neues Zuhause auf Zeit
Viktoriia träumte seit vielen Jahren davon, einmal ins Ausland zu reisen und sich die Welt anzusehen. Dass ihr Wunsch auf diese Weise erfüllt wurde, stimmt sie in keiner Weise froh. Sie floh mit ihren Kindern nach Österreich, weil es hieß, dass es hier sicher sei. „Es fliegen keine Bomben, oder?“, fragt Sviato rhetorisch und schaut wie zur Bestätigung in den Himmel.
Als die drei nach St. Johann kamen, wohnten sie einen Monat lang im St. Johanner Hof und mussten sich ein Bett teilen, bevor ihnen die kleine Wohnung angeboten wurde, in der sie nun ein Zuhause auf Zeit gefunden haben. „Bei mir da war gut in einem Bett“, sagt Dima mit einem verschämten Blick zur Mutter. Sie lacht, Sviato stimmt ein.
In Charkiw war Viktoriia beim Arbeitsmarktservice der Stadt angestellt, nun arbeitet sie als Küchenhilfe. „Ich bin zufrieden“, sagt sie. Die Buben besuchten im vergangenen Schuljahr die MS 2 in St. Johann, der größere wird nun in die Handelsakademie in Kitzbühel wechseln. Sviato möge die deutsche Sprache sehr gerne, viel lieber als Englisch, erzählt er. Als er davon berichtet, dass ein ehemaliger Schulkollege mit seiner Mutter aus der Ukraine nach England flüchtete und jener nun Englisch sprechen müsse, macht er scherzhaft eine Grimmasse: „Das wäre schlimm für mich!“ Er ist ein aufgeweckter und wissbegieriger junger Mann, von schlaksiger Statur, wie es auch sein kleiner Bruder ist. Die Hälfte der ehemaligen Schulfreunde der Buben ist in alle Welt zerstreut.
Stadtkinder am Land
Schlimm ist es, wenn die Kinder im Fernsehen verfolgen müssen, wie ihre Heimat Stück für Stück von russischen Bomben, Drohnen oder Raketen zerstört wird. Noch schlimmer ist es, wenn Menschen der Meinung sind, das sei in Ordnung, weil Russland im Recht ist. Am allerschlimmsten ist es, wenn diese Menschen Mitschüler sind. Dima schluckt, er will nicht darüber reden. Es gab Vorfälle, es gab Entschuldigungen. Sie berühren natürlich auch seinen Bruder, der sich inzwischen fast dafür schämt, dass Russisch seine Muttersprache ist.
Den Buben gefällt es gut bei uns. Sie haben jeder ein Fahrrad geschenkt bekommen und lieben es, damit herumzudüsen, Freunde zu treffen und hin und wieder Fußball zu spielen. Sviato ist Mitglied des Basketballvereins in Kirchberg und trainiert dort einmal wöchentlich. Er möchte einmal Programmierer werden. Er sagt, er liebe die Natur in der Region; Dima mag vor allem die Berge, denn die gibt es in Charkiw nicht, und würde gerne in einem Verein turnen. Als „Stadtkinder“ genießen es die Buben, das Grün direkt vor der Haustür zu haben und sich dort frei bewegen zu können. Der 11-jährige Dima liebt das Essen in Tirol, er möchte einmal Koch werden und geht seiner Mutter bereits öfters zur Hand. Das Einzige, das er in kulinarischer Hinsicht vermisst, sind die Krabbenchips aus der Heimat.
Am allermeisten vermissen die beiden Buben aber natürlich ihren Vater. Sie stehen mit ihm in Verbindung und wissen, dass es ihm und auch der geliebten Großmutter gut geht. Sviato sehnt sich auch nach seiner Katze Marsik. „Ich wollte immer eine Katze haben, jetzt musste ich sie verlassen“, sagt er traurig. Aber er könnte doch vielleicht auch hier ein Haustier haben? „Das wäre aber dann nicht meines“, antwortet er.
Bleiben – oder nicht?
Können sich Dima, Sviato und Viktoriia vorstellen, nicht mehr in die Heimat zurückzukehren, sondern für immer hierzubleiben? Dima schüttelt spontan den Kopf, Viktoriia sagt: „Österreich ist ein sehr schönes Land, aber Ukraine ist meine Heimat.“ Sollte sie eines Tages eine gute Arbeitsstelle bekommen, könne sie es sich aber vorstellen, für längere Zeit zu bleiben, meint sie. Zumindest so lange, bis der „Große“ die Matura abgelegt hat. Und Sviato selbst? „Ich muss tief in meine Gedanken reisen“, antwortet er auf meine Frage und legt den Kopf zur Seite. Er scheint hin und her gerissen und kann sich nicht wirklich zu einer Antwort durchringen. „Und unser Vater?“, fragt er schließlich. Seine Frage hängt unbeantwortet in der Luft.
Viktoriia ist es wichtig, in diesem Bericht jenem Ehepaar zu danken, in dessen Wohnung ihre Familie untergebracht ist. „Wunderbare Menschen!“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht, das nun endlich etwas Glanz bekommt.
Doris Martinz