Von vier Generationen Leidenschaft zum Backen, einem Scherz an einem „Schantinger“ und mehr.
Dass ein Unternehmen 100 Jahre alt wird und dabei wirtschaftlich schwierigste Zeiten überwindet, davon hört man nicht alle Tage – dafür braucht es wohl außergewöhnliche Menschen und Persönlichkeiten. In der Familie Rass sind solche Charaktere zu finden. Sie führten ihren Betrieb in Zeiten, in denen der Bäcker eigentlich auch Holzarbeiter sein musste. In einem Jahr, in dem es galt, in St. Johann tausende Flüchtlinge und Besatzungstruppen mit Brot zu versorgen. In einer Zeit, in der die Bäcker bei Kontrollen um zwei Uhr morgens wie aufgeschreckte Mäuse in ihre Verstecke huschten. Mit Peter Rass junior ist nun die vierte Generation Rass-Bäcker am Ruder beziehungsweise am Rührarm. Aber der Reihe nach: „Mein Großvater Peter Rass hat 1923 hier, in der Dechant-Wieshofer-Straße, eine Bäckerei eröffnet, und gleichzeitig hat sein Bruder, der Johann Rass, eine Drechslerei gehabt. Das halbe Haus war Bäckerei, das halbe Haus war Drechslerei; so entstand der Name Drechslerbäck, die älteren St. Johanner nennen unsere Bäckerei heute noch so“, erzählt Peter Rass senior bei unserem „Familiengespräch“ mit seiner Frau Margreth, seinem Sohn Peter junior und dessen zukünftiger Frau Nadine im Büro der Bäckerei. Peter, nennen wir ihn der Übersichtlichkeit halber Peter I, der Gründer der Bäckerei, hatte das Handwerk bei seinem Onkel, dem Jagglbäck gelernt. „Das ist der Urbäck in St. Johann, geschichtlich belegt bis 1722 zurück.“ 300 Jahre, was für eine Zeitspanne!
Das Wichtigste war in den Anfängen – und im Prinzip ist es heute noch so – der Backofen. Peter I hatte einen Holzofen gebaut, mit dem 30 Jahre lang gebacken wurde. Wenn die Bäcker mit ihrer Arbeit fertig waren, halfen alle zusammen, um das Holz für den nächsten Tag herzurichten. Bis Fieberbrunn hinein kamen die Bäcker, um von den Bauern Schadholz und alte Bäume zu kaufen und nach St. Johann zu transportieren.„Entlang der Hauswand war ein riesiger ,Holzzoa‘“.
Das Bier im Brunnen
Zeit war und ist der wichtigste Faktor beim Backen. Der Teig braucht Zeit zum Reifen, und der Holzofen brauchte früher seine Zeit, bis die Temperatur für den „ersten Schuss“, den ersten Schwung Brot, erreicht war. Vor dem zweiten Schuss wurde nachgelegt und wieder aufgeheizt. Das dauerte rund zwei Stunden, man vertrieb sich die Zeit mit einem Ratscher in der Backstube. Manchmal kam auch der Gendarm, der Nachtdienst hatte, vorbei zum „Hoangaschtn“. „Das war eine gemütliche Zeit“, so Peter senior (Peter II). Heute herrscht in der Backstube einiges an Druck, in sechs Stunden muss alles fertig sein, es gibt keine Wartezeiten oder Leerläufe. Und damit auch keine lustigen Streiche mehr wie jenen, den man in der Backstube einst dem „Schantinger“, dem Gendarmen des Orts, spielte: Jener verriet dem Bäcker, dass er im Dorfbrunnen eine Flasche Bier für den Feierabend am Morgen eingekühlt habe. Der Bäcker hieß daraufhin seinen Gesellen, schnell zum Brunnen zu laufen, das Bier auszutrinken, die Flasche mit Wasser zu füllen und sie wieder zu verschließen – was jener gerne tat. Welch eine böse Überraschung am frühen Morgen für den Gendarmen! „Er wusste aber gleich, wem er sie zu verdanken hatte“, meint Peter senior schmunzelnd.
Riskante Brothol-Aktionen
Peter seniors Vater Josef trat im Alter von 14 Jahren als Lehrling im Betrieb seines Vaters Peter I ein. Sein ganzes Leben lang verbrachte er in der Backstube. Das härteste Jahr sei 1945 gewesen, weiß Peter senior von seinem Vater. Zirka 12.000 Leute habe man damals in St. Johann mit Brot versorgen müssen, davon 4.000 St. Johanner:innen, der Rest waren Flüchtlinge und Besatzungstruppen, die durchzogen. Es wurde rund um die Uhr gebacken.
Das Hauptproblem sei die schlechte Qualität des Mehls gewesen: Weizenmehl war fast nicht zu bekommen, das Roggenmehl wurde mit Gerste oder Kartoffelmehl verlängert. Wer Brot brauchte, bekam eine festgelegte Ration über Lebensmittelkarten – wenn es überhaupt noch welches gab. Der Mangel führte dazu, dass sich manche Leute um vier Uhr morgens bei den Nachbarn der Bäckerei versteckten, um bei Geschäftsöffnung um sechs Uhr morgens – nach Aufhebung der nächtlichen Ausgangssperre – für sich und die Familie Brot zu holen. „Die Oma hat erzählt, dass da hundert Leute angestanden sind.“ Heute stehen die Leute in den Morgenstunden Schlange, um das neueste iPhone zu ergattern, damals riskierten sie harte Strafen für ein Stück Brot. So ändern sich die Zeiten.
Relativ schnell ging es aufwärts, 1953 wurde umgebaut, und man schaffte einen Elektrobackofen an. 1956 starb Peter I, bis 1959 wurde die Bäckerei als Witwenbetrieb geführt. Erst als Josef heiratete, wurde er Chef.
1975 begann Peter senior, Peter II, seine Lehre, allerdings jene zum Konditor: Seine Eltern waren der Ansicht, dass der Beruf des Bäckers keine Zukunft hatte und körperlich zu anstrengend war. Sie träumten von einem Caféhaus mit Konditorei; Peter senior schaffte es mit Müh und Not, sie davon zu überzeugen, dass es Sinn macht, wenn er an seine Konditorlehre bei Lorenzoni in Kirchberg noch ein Jahr anhängt und sich dann auch Bäcker nennen darf. Dass er die Doppellehre absolvierte, sollte sich als entscheidend dafür erweisen, in welche Richtung sich der Betrieb weiterentwickelte.
Nach einer Hüft-Operation war Josef später auf Krücken angewiesen und froh darüber, dass sein Sohn nicht nur Konditor, sondern auch Bäcker war. „Der Unterschied liegt vor allem in der Stundenleistung“, erklärt Peter senior. „Wir haben damals in wenigen Stunden zweitausend Semmeln gemacht, das hat mir getaugt. Als Konditor stellt man am Tag ein paar Kuchen und Torten her, und das Herstellen von Pralinen oder Zuckergussfiguren ist eine ,Fiezlerei‘. Für mich war das nervenzerfetzend.“ „Für mich wäre das auch nichts“, sagt sein Sohn und lacht.
10.000 Semmeln am Tag
1956 starb Josef – Herzinfarkt in der Backstube, er wurde nur 63 Jahre alt. Genauso alt, wie sein Sohn heute ist. „Ich hoffe, ich lebe noch ein Weilchen“, meint Peter senior nachdenklich. „Ganz bestimmt, wir pflegen dich ja gut“, meint seine Frau Margreth augenzwinkernd.
Der Betrieb entwickelte sich stetig, der Arbeitsumfang stieg. 1988 erweiterte die Familie Rass das Geschäft zum ersten Mal. St. Johann erlebte in den 80er und 90er Jahren eine Hochblüte des Tourismus, der Ort verfügte über zirka 6.000 Betten. Ein Backzettel aus dem Jahr 1991 belegt, dass an einem Tag 10.000 (!) Semmeln gebacken wurden. Freilich war das Sortiment damals noch kleiner, es umfasste zu den „Bitschei“ nur Bosniaken, Salzstangerl, Weinbeerweckerl, Brezen und Laugengebäck. Während die Semmel seit 30 Jahren rückläufig ist, wurde das Gebäck immer mehr und vielfältiger. Hotels würden heute fast nur noch Jour-Gebäck, also Kleingebäck, abnehmen, so Peter senior. Fast 1.000 Stück davon produziert das Rass-Team davon täglich, an Spitzentagen sind es 2.000 Stück in sechs verschiedenen Sorten. Insgesamt stellt Rass über 100 verschiedene Brot- und Gebäcksorten her.
1998 wurde zum zweiten Mal um- und ausgebaut. Zu Weihnachten herrschte in jenen Jahren so ein Andrang, dass die Kundschaft durch das Geschäft hindurch geleitet wurde – zur Geschäftstür herein und beim Hinterausgang hinaus. Am Abend des 24. Dezember war die Familie vollkommen erschöpft und „fertig mit der Welt“. Ein Grund für die hohe Nachfrage: Bis in die 90er Jahre gab es nur halb so viele Supermärkte wie heute und keine Tankstellen, die Brot verkauften.
Ständiger Wandel
1991 renovierte man die Backstube, es kam ein zweiter Backofen. Die Kundschaft war anspruchsloser, als sie es heute ist: Die Wirte wurden am Samstag mit Zeilen und Zöpfen für den Sonntag beliefert: Am Sonntag gab es keine Semmeln, und die Gäste erwarteten das auch nicht.
2001 eröffnete Rass die Filiale in der Kaiserstraße. Das Angebot wurde besser, hochwertiger, vielfältiger, es wurde mehr Plunderware nachgefragt und produziert.
2009 kam der Wochenmarkt, Peter Rass senior war Gründungsobmann des Vereins. Man fing mit zwölf Ständen an, heute sind es 24. „Ich war immer davon überzeugt, dass der Markt funktionieren würde, er hat sich auf unseren Betrieb sehr positiv ausgewirkt.“ Immer waren und sind die Markttage aber auch eine Herausforderung, denn das Gebäck muss ja immer frisch sein, und gerade zu Ostern und Pfingsten ist die Nachfrage enorm.
2012 dachte man in der Familie Rass an eine Erweiterung, sogar an einen Neubau an anderer Stelle; die Pläne wurden dann doch wieder verworfen. 2019 stand endgültig der Plan für einen großen Umbau – und dann kam Corona. „Wir sind im Büro gesessen und haben nicht gewusst, ob es überhaupt weitergehen konnte“, erinnert sich Margreth. „Den 16. März 2020 werde ich nie vergessen. Eine Woche zuvor haben wir noch daran gezweifelt, dass das Arbeitspensum weiterhin zu schaffen ist. Innerhalb eines Tages kam alles zum Erliegen.“ Margreth und ihre angehende Schwiegertochter Nadine übernahmen in der Folge die Hauszustellung für bis zu 70 Kundinnen und Kunden täglich. Die Familie Rass sprach keine Kündigungen aus, sondern konnte – auch dank Kurzarbeit – das gesamte Team mit durch die schwierige Phase mitnehmen. Es wurden sogar zwei neue Bäcker eingestellt, die man andernorts entlassen hatte.
Investition in die Zukunft
2021 erfolgte der An- und Umbau der Backstube, er machte die Bäckerei fit für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Und dennoch: Aufgrund der großen Nachfrage nach Brot und Gebäck aus der „Drechslerbäckerei“ könnte Rass eine weitere Backstube brauchen – und einige Bäcker mehr. Denn die Bäckerei Rass hat sich in all den Jahrzehnten gehalten, anders als viele andere: Als Peter Rass senior Bezirksinnungsmeister war (1995 bis 2000), gab es 24 Backstuben im Bezirk, jetzt sind es 14 – zehn Bäckereien haben im Zuge des großen „Bäckersterbens“ zugesperrt. Zu groß ist die Konkurrenz der Diskontmärkte.
In St. Johann allerdings bescheinigt Peter senior den Einheimischen noch stark regionales Denken und Wertschätzung für die Arbeit des Bäckers: „Die Leute gehen bei uns noch lieber zum Bäcker als in den Supermarkt, wenn sie Brot brauchen.“
Haben Margret und Peter Rass senior in all den Jahren, die auch viele Herausforderungen brachten, ans Aufgeben gedacht? „Nein“, sagen beide gleichzeitig und ohne nachzudenken. Sie lachen herzlich. „Es gab schon immer wieder Zeiten, in denen ich mir gedacht habe, mein Gott, jetzt packe ich es nicht mehr. Aber dann hat mich Peter hochgezogen, und umgekehrt genauso. Wir haben uns immer gegenseitig gestützt“, sagt Margreth. Lange Urlaubsreisen sind für die beiden nicht drin, es sind vielmehr Kurzurlaube von Montag bis Donnerstag, die sie zusammen verbringen. Das gilt auch für Peter junior (Peter III) und Nadine. Und doch: „Wenn jemand ein regelmäßiges Leben führt, ist der Beruf des Bäckers der schönste der Welt“, so Peter junior. „Man kann vormittags schlafen und hat am Nachmittag frei!“ Seine Aufgabe ist es, die Bäckerei in die Zukunft zu führen und junge Leute für den Betrieb zu gewinnen. Positive Argumente gibt es genug: Die Bezahlung ist aufgrund Nachtarbeit gut, man übt ein angesehenes Handwerk aus, das in der ganzen Welt gefragt ist, hat viel Zeit für Hobbys und kann seinen Job sehr gut mit der Familie verbinden. „Mein Mann ist im Winter mit Peter in der Babytrage oft durch den Ort spaziert, er hatte als Vater viel Zeit für seine Kinder. Wir arbeiteten zwar immer beide im Betrieb, brauchten aber nie ein Kindermädchen“, erinnert sich Margreth lächelnd.
Ein Traum geht in Erfüllung
Das Bäckerei-Geschäft hat sich jedoch gewandelt, vom Brotverkauf allein könnte Rass heute nicht leben. Ein wichtiges Standbein ist das kleine Café im Geschäft. Als im Zuge des Umbaus 1998 die ersten acht Sitzplätze entstanden, setzte sich der Vater von Peter senior, Josef, dort auf einen Stuhl, nahm seine Pfeife in den Mund und genoss den Moment. Für ihn ging mit dem kleinen Café ein Traum in Erfüllung. Sein Sohn war zwar Bäcker geworden, aber das Café durfte er dennoch führen – eine Änderung der Gesetzeslage hatte das möglich gemacht. Früher jedoch hatte es erbitterte Kämpfe zwischen Bäckern und Konditoren gegeben, zum Beispiel darum, wer Faschingskrapfen verkaufen darf. Der „Krapfenkrieg“ in den 70er Jahren ist Margreth noch gut in Erinnerung. In all den Jahrzehnten gab es so manche gesetzliche Hürde, die zu nehmen war. So war zum Beispiel in den 50er und 60er Jahren Nachtarbeit verboten, erst ab vier Uhr morgens durfte man in der Bäckerei die Arbeit aufnehmen. Klopfte um zwei Uhr morgens der Arbeitsinspektor ans Fenster, verschwanden die Bäcker und versteckten sich im ganzen Haus wie Mäuse, die in ihr Loch huschen.
Die Familie Rass hat viele Höhepunkte, aber auch Tiefschläge er- und überlebt. Der Umgang mit einem der wichtigsten Lebensmittel, dem Brot, ist in den vielen Jahren ein anderer geworden. Die Industrie fügt dem Teig chemische Zusätze zu, die es fast „unkaputtbar“ machen. „So mancher Toast im Plastiksackerl hält sich jahrelang“, weiß Peter junior. Die Frage ist nur, ob wir diesen Toast essen wollen.
Die Familie Rass verwendet in ihrer Backstube ausschließlich österreichisches Mehl aus der Wieshofer Mühle oder der Rauch Mühle. „Die Getreidequalität in Österreich ist im internationalen Vergleich absolut spitze!“, weiß Peter senior. Die Bäckerei Rass ist der „Testbäcker“ für die Wieshofer Mühle, hier werden neue Sorten auf ihre Backtauglichkeit und Qualität geprüft.
Jede Region hat ihr Brot
Peter senior findet es schade, dass die Bauern in unserer Region heute kein Getreide mehr anbauen, sondern fast alle Milchwirtschaft betreiben. Dabei ist der „St. Johanner Weizen“ im Samenarchiv „Arche Noah“ gespeichert – eine kernige, kraftvolle Weizensorte, die unserem Klima angepasst ist, im Bezirk Landeck nach wie vor angebaut und von den dortigen Bäckereien auch verarbeitet wird. Auch Dinkel würde, so Peter senior, in unseren Breitengraden gut gedeihen. „Das würde ich mir für die Zukunft wünschen, dass bei uns wieder Getreide angebaut wird. Wir würden es gerne verarbeiten. Jede Region hat ja ihre eigenes Korn, das sich für bestimmte Brotsorten eignet“, so Peter senior. So sei es kein Zufall, dass in den südlichen Gefielden keine Semmeln zu bekommen sind: Das regionale Mehl enthält weniger Eiweiß und damit weniger Kleber und eignet sich vor allem für die Herstellung von Pizza und Fladen.
Früher brachten die Bauern der Region ihr Getreide zur Mühle und später ihr Mehl zum Bäcker, um damit Brot backen zu lassen, dessen Menge für einige Wochen reichte. Freilich hatten viele auch ihren eigenen Backofen.
Wo früher Getreide stand, stehe heute Mais, der zur Herstellung von Biogas verwendet wird. Da stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit.
Jene stellt sich in einer Bäckerei ohnehin jeden Tag. Was passiert mit dem Brot, das abends übrigbleibt? „Alles wird verwertet“, versichert Peter senior. Von den Supermärkten komme zirka fünf Prozent Retourware. Sie gehe zum Teil an die „Tafel“ des Roten Kreuzes oder werde den Bauern als Viehfutter überlassen, Weißbrot werde zu Knödelbrot verarbeitet. „Und die Topfengolatschen bekommen die Affen im Wildpark Ferleiten“, so Peter junior schmunzelnd.
Die Aufgaben, die die Zukunft bringt, werden nicht kleiner sein als jene der Vergangenheit. Die Familie Rass wird sich ihnen stellen – gemeinsam, die Bäcker mit ihren starken Frauen, die sie immer schon durch Höhen und Tiefen begleitet haben. Es sind außergewöhnliche Persönlichkeiten, die von ihren Vorfahren wissen, dass sich jede Krise zu bewältigen ist und es immer jemanden brauchen wird, der Brot bäckt.
Doris Martinz