Die St. Johannerin Frieda Krepper erzählt von schmerzlichen Abschieden, ihrem ersten Tanz nach langer Zeit und mehr.
Wie meine Mutter mit 84 Jahren gestorben ist, habe ich mir gewünscht, dass ich auch so alt werde. Und jetzt bin ich 90, ich kann es eigentlich gar nicht glauben“, sagt Frieda Krepper und blättert versonnen in den Fotoalben vor ihr am Küchentisch. „Ja, aber du bist immer noch aktiv“, sagt ihr „Jüngster“, Edwin, und bedenkt seine Mutter mit einem liebevollen Blick. In der Wohnung komme sie noch gut zurecht, erklärt Frieda; aber draußen, auf der Straße, sei sie nie ohne ihre Gehhilfe, den Rollator, anzutreffen. Alle paar Tage führt sie der Weg zum Friedhof, wo sie ihren verstorbenen Mann Hansi und ihren ältesten Sohn Hans besucht. Schmerzvoll waren die Abschiede, besonders der viel zu frühe Tod des Sohnes vor sechs Jahren tut noch heute weh. Es tröstet sie, dass sich Vater und Sohn ein Grab teilen.
In jungen Jahren, als sie noch keine Ehefrau und Mutter war, absolvierte Frieda eine Lehre als Schneiderin. Die Nähmaschine wurde im Laufe der Jahre und Jahrzehnte fast zu einem Teil ihrer selbst. Edwin sieht die großen „Burda“-Schnittbögen noch vor sich, das ganze Nähzeug ausgebreitet in der kleinen Küche und sich selbst daneben als Kind mit Lego oder Matador spielend. Die Mutter wechselte von der Nähmaschine an den Küchenherd und wieder zurück und arbeitetet oft bis spät in den Abend. „Wenn wir Kinder schlafen gegangen sind, haben wir immer die Nähmaschine rattern gehört“, erzählt er. Noch heute fragen manche Leute die 90-Jährige: „Frieda, tuast du nu wås?“ Und sie antwortet: „Solange meine Augen ihren Dienst tun und ich es schaffe, die Nähseide einzufädeln, nähe ich noch.“ Aber freilich ist mit den Jahren alles mühsamer geworden.
Auswanderung
Frieda wird 1933 in der Nähe von Salurn in Sanzeno/Provinz Trient geboren. Eines Tages, sie ist sieben Jahre alt, heißt es dann, die Familie müsse – wie viele andere – entweder in den Süden „zu den Italienern“ oder hinaus ins Deutsche Reich ziehen. Der Süden kommt nicht in Frage. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Irmgard wird Frieda für ein halbes Jahr zur Großmutter nach Salurn geschickt, die Mutter – nach einem Gehörsturz während der Geburt des ersten Kindes hört sie schlecht und ist allgemein gesundheitlich angeschlagen – kümmert sich um die jüngeren Zwillinge und bereitet die Auswanderung vor. Frieda erinnert sich daran, wie Fuhrwerke die Möbel sowie den gesamten Hausrat eines Herbsttages im Jahr 1940 zur Bahn bringen, wo ein leerer Waggon bereitsteht. Während Irmgard dem Vater beim Verladen hilft, versucht die kleine Frieda, ihre verzweifelte Mutter zu trösten. Der Mutter fällt der Abschied von der Heimat furchtbar schwer, sie weint ununterbrochen. Es hilft nicht, dass ihr Mann meint, im Reich erwarte sie eine bessere Zukunft. „Es ist, als wäre es gestern gewesen“, sagt Frieda bekümmert. „Es tut noch immer weh, die Mutter so leiden zu sehen.“ Ihr Schmerz überträgt sich damals auf die kleine Frieda, die Trauer wird nie völlig vergehen.
Das Ziel des Waggons ist eigentlich Bayern, aber die Grenze in Kufstein ist aufgrund von Bombardierungen gesperrt. So heißt es in Innsbruck: „Endstation!“ Die Familie wird notdürftig untergebracht. Der Vater sucht nach Arbeit, doch es gibt lange Wochen und Monate keine Stelle für ihn. Als er erfährt, dass die Bundesbahn im Bezirk Kitzbühel einen Arbeitsplatz anbietet, meldet er sich sofort. So kommen die Südtiroler nach St. Johann.
Neues Leben in St. Johann
Zuerst werden sie beim Lamperer-Bauern untergebracht, später bekommen sie eine kleine Wohnung in der Meranerstraße. Die Umstände sind bescheiden, aber „soweit hat uns nichts gefehlt.“ Die Mutter jedoch weint immer noch viel und ist psychisch kaum belastbar. Dass manche Leute sie auf der Straße anfeinden, weil sie ihr die neue Wohnung mit Warmwasser und Badewanne neiden, macht es nicht leichter. Frieda muss ihr vieles abnehmen, vor allem die Behördengänge. Der Vater stirbt viel zu früh, mit 54 Jahren, an den Folgen einer Verletzung, die er sich im ersten Weltkrieg zugezogen hat. Frieda erzählt von seinen letzten Tagen, sie erinnert sich an jedes Wort, das er damals zu ihr sagt. Sie hat beim Eislaufen gerade ihren zukünftigen Mann Hansi kennengelernt. Der Vater schickt die beiden ins Kino, sie sollen sich unterhalten und Spaß haben. Am nächsten Tag stirbt er. Der Schmerz darüber ist Frieda noch heute anzusehen.
Aber das Leben geht weiter. Hansi arbeitet beim „Hilscher“, einem Geschäft für Eisenwaren, Geschirr und mehr (heute ist „Libro“ dort eingemietet), und bald kommt Töchterchen Inge zur Welt. 21 Jahre ist Frieda damals alt. Das Paar würde gerne heiraten, aber die Schwiegermutter will die notwendigen Papiere nicht freigeben. Erst als Inge drei Jahre alt ist, werden Frieda und Hansi endlich getraut. Das Verhältnis zur Schwiegermutter bleibt zeitlebens schwierig. Erst am Sterbebett lässt Hansis Mutter Frieda zu sich rufen und macht ihren Frieden mit der Ehefrau ihres geliebten Sohnes.
Eine eigene Familie
Frieda und Hansi bekommen sieben Kinder: Inge, Hans, Werner, Gabi, Gernot, Gudrun und Edwin. Die Kreppers wohnen auf recht beengtem Raum in der Achenallee, später bekommen sie im oberen Stockwerk wenigstens noch ein weiteres Zimmer zu ihrer Wohnung dazu. „Es ist schon irgendwie gegangen, so haben wir das Zusammenräumen gelernt“, meint Edwin.
Man lebt bescheiden. Urlaube gibt es nicht, dafür machen sich die Eheleute jeden Sonntag auf nach Südtirol, wo sie Friedas Verwandte besuchen. Die Autofahrten über die Passstraßen der Dolomiten sind Hansis Leidenschaft. „Je mehr Kurven, desto besser“, erinnert sich Frieda lachend. Sonst jedoch ist Sparsamkeit angesagt. Besuche in Gast- oder Kaffeehäusern sind die absolute Ausnahme. Hansi ist zwar ein Musikant und spielt Klarinette in der Musikkapelle St. Johann, ein Gasthaus-Sitzer ist er aber nicht. Er arbeitet später im Lagerhaus und dann als Hausmeister bei der Apotheke. Tag für Tag ist er in seinem blauen Arbeitsmantel und seinem Minirad im Ort unterwegs, so kennt man ihn. Er stirbt 2013 im Alter von 82 Jahren nach 60 gemeinsamen Ehejahren. Wie schafft man es, so lange eine funktionierende Ehe zu führen? „Natürlich gibt’s immer einmal Meinungsverschiedenheiten. Aber dann geht man schlafen und redet sich aus und tut nicht am nächsten Tag weiterstreiten“, erklärt Frieda.
Noch immer Südtirol
Edwin erinnert sich an die Vorweihnachtszeit in seiner Kindheit: Jeden Tag wurde abends in der Küche das Licht ausgeschaltet, die Mutter zündete die Kerzen am Adventkranz an. Dann hieß es Rosenkranz beten und danach Adventlieder singen, der Vater spielte dazu auf seiner Zither. „Jeden Tag“, sagt Edwin mit Nachdruck, es klingt noch heute etwas gequält. Er lacht herzlich, Frieda stimmt mit ein. „Das war damals halt so!“
„Ich habe wahnsinnig brave Kinder!“, meint Frieda gleich darauf und, in Edwins Richtung: „Ihr seid’s alle so nett!“ Alle würden sich gut um sie kümmern, so die 90-Jährige. Man hole sie zum Essen ab oder nehme sie zum Einkaufen mit, jeder schaue nach ihr. Bei der Hochzeit ihrer Enkelin habe sie mit dem Simon, dem Freund einer anderen Enkelin, sogar getanzt, man stelle sich das vor! Es war der erste Tanz seit Jahrzehnten.
Frieda, die Mutter, Oma und Uroma, ist wunderbar eingebunden in das familiäre Netz. Und doch: Im Herzen ist sie nach all den Jahrzehnten in St. Johann noch immer eine Südtirolerin. „Wenn ich über den Brenner fahre, fühle ich mich daheim“, gesteht sie. Inge, ihre älteste Tochter, heiratete einen Südtiroler, welch ein Glück! Und das Schönste daran: Sogar ihre Mutter erlebte das noch und freute sich unendlich. Und eine der Enkeltöchter (insgesamt hat Frieda zwölf Enkelkinder und sechs Urenkel) habe jetzt auch einen Freund aus Südtirol, aber Genaueres wisse sie noch nicht, verrät Frieda mit einem verschwörerischen Lächeln. Wieder Grund zur Hoffnung.
Sie blättert weiter in den Alben, schüttelt den Kopf. Von der Feier zum 90er gibt es ein eigenes Fotobuch. „90 – das bin ich“, sagt sie, als könnte sie es immer noch nicht glauben. „Und alle meine Kinder sind so brav.“
Doris Martinz