Dank des VST und des „Balance“-Physiotherapie-Teams können in Kitzbühel Menschen mit Querschnittlähmung nun mit dem Exoskelett trainieren.
Man sei ziemlich aufgeregt, wenn es so weit ist, erzählt Patrik. Der Moment, in dem er fünf Jahre nach dem furchtbaren Unfall den ersten Schritt auf den eigenen Beinen machte, bleibt ihm für immer im Gedächtnis: Es habe sich angefühlt wie ein Tritt ins Leere. „Als würde man schlaftrunken in der Nacht aufstehen und eine Stufe übersehen. Man fängt sich, balanciert sich aus und setzt jeden folgenden Schritt sehr vorsichtig.“
Jede Woche trainiert Patrik Fritzer in der Physiotherapie-Praxis „Balance“ in Kitzbühel mit einem Exoskelett – ein robotisch-bionisches „Gerüst“, das von einem amerikanischen Unternehmen ursprünglich für den Therapieeinsatz bei Kriegsveteranen entwickelt wurde. Heute wird es weltweit in Rehabilitationseinrichtungen genützt. Das batteriebetriebene System wird über der Kleidung getragen und ermöglicht Nutzer:innen das sichere Stehen und Gehen mittels elektrischer Motoren, die die Beine bewegen.
Dass dieses „Hightech-Wunderding“ in Kitzbühel zur Verfügung steht, hängt mit einem „Männerausflug“ im Jahr 2022 zur MotoGP nach Spielberg zusammen: Dort lernen Walter Nothegger, Hannes Diegel, Thomas Cullek und Alex Heinzel (die beiden letzteren sind Mitglieder des VST Kitzbühel) im KTM-Catering-Zelt Ricarda Trupp aus Neukirchen kennen, die dort einem Freund aushilft. Sie erzählt ihnen von ihrem Bruder Florian Lechner, von seiner Querschnittslähmung nach einem Bergunfall und davon, dass er ein Exoskelett, das einer Privatperson im Zillertal gehört, nützen könne. Walter und seine Freunde lassen das Schicksal des jungen Mannes und der Gedanke an das futuristisch anmutende Trainingsgerät nicht mehr los. Was, wenn man so ein Exoskelett nach Kitzbühel holen würde, um weiteren Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, die moderne Technik zu nützen? Außer in Reha-Einrichtungen ist dies bis zu diesem Zeitpunkt nämlich nur bei „tech2people“, einem spezialisierten Institut in Wien, möglich. Betroffene aus ganz Österreich fahren dorthin, um eine oder zwei Wochen lang mit dem Exoskelett zu trainieren. Aber das können sich längst nicht alle, die es brauchen würden, leisten.
Pilotprojekt
Walter fragt bei „Balance“ in Kitzbühel nach, ob man sich überhaupt vorstellen könne, mit einem Exoskelett zu arbeiten. Man kann. Aber ein großer Punkt sind natürlich die Kosten für Anschaffung und Wartung – der Preis eines neuen Geräts liegt im sechsstelligen Bereich.
Nun kommt der VST ins Spiel: Drei Therapeut:innen der Praxis und einige Mitglieder des VST fahren ins Zillertal, um sich das Gerät bei der Privatperson anzusehen. Was sie dort zu sehen bekommen, begeistert alle.
Zwischen der Entscheidung des VST, der Praxis „Balance“ ein Exoskelett zur Verfügung zu stellen und der tatsächlichen Aushändigung des Geräts liegen aber unzählige Telefonate und Gespräche mit Philipp Bruchbacher von „tech2people“ in Wien, die sich über Monate hinziehen. Man ist grundsätzlich bereit, eine Kooperation einzugehen, doch es sind viele Fragen zu klären. „Da so etwas in Österreich noch nie gemacht wurde, wir also ein Pilotprojekt gestartet haben, waren eine Unmenge an Details rund um den Leihvertrag und die Versicherung zu behandeln“, erzählt Thomas Spindler, der die Verhandlungen für den VST führte. Er konnte schließlich alles regeln – auch Dank des Entgegenkommens von Philipp Bruchbacher. Das „Balance“-Team kann nun ein Gerät bis Ende dieses Jahres leihweise nutzen. Möglichst viele Menschen sollen davon profitieren.
Leben im Hier und Jetzt
Die Therapeut:innen Christina Stamp, Gabriele Brucker und Andreas Salvenmoser von „Balance“ haben inzwischen die entsprechende Ausbildung absolviert und arbeiten bereits mit einigen Patienten. Zu ihnen zählen Florian Lechner und Patrik Fritzer. Beide kennen den Besitzer des Exoskeletts im Zillertal und konnten bislang dort trainieren. „Dass ich das jetzt in Kitzbühel tun kann, macht es mir aber leichter,“ sagt Patrik. Der Unfall beim Motocross-Training, aus dem seine hohe Querschnittlähmung resultiert, liegt nun fast elf Jahre zurück. Dank der Unterstützung durch Familie und Freunde, dank persönlicher Assistent:innen und Steh-Rollstuhl kommt er daheim, in seiner Wohnung in Kössen, gut zurecht. Der 37-Jährige ist gerne draußen in der Natur, er liebt es beispielsweise, an einem See zu sitzen und aufs Wasser zu schauen. „Den Moment auffangen und genießen, im Hier und Jetzt leben, das ist mir total wichtig“, sagt er. Er ist überzeugt davon, dass die Medizin Querschnittslähmungen eines Tages heilen können wird. Aber er wartet nicht darauf, sondern richtet seinen Fokus auf das Jetzt. Der Unfall habe sein Leben von einem Tag auf den anderen völlig umgekrempelt. Es habe drei Jahre gedauert, bis er das Geschehene annehmen und verarbeiten habe können. Aber er sei in sein neues Leben hineingewachsen. „Und ich schaue, dass ich so viele schöne Momente wie möglich sammle.“
Keine Heilung, aber effizientes Training
An dem Tag, an dem ich Patrik bei „Balance“ treffe, macht er in einer Stunde 400 Schritte. Noch begleiten ihn Christina, Gabi und Andreas gemeinsam, später wird er mit einer Therapeutin/einem Therapeuten und der Assistenz klarkommen. Seine Erfahrungen mit dem Gerät in den letzten Jahren kommen dem Team zugute. Das Gehen lockere seine spastischen Krämpfe, erzählt er. Danach fühle er sich immer viel besser. „Das Training mit dem Exoskelett wirkt sich positiv auf Knochen, Muskeln, Sehnen, Gelenke, auf Verdauung und Kreislauf aus“, bestätigt die Therapeutin Christina Stamp. Andreas Salvenmoser weist auf einen weiteren wichtigen Punkt hin: Der Perspektivenwechsel vom dauernden Sitzen zum Stehen und Gehen sei für die mentale Gesundheit ungemein wichtig, sagt er. Beim Exoskelett-Training würden viele Betroffene wieder Kraft und Mut schöpfen. Wiewohl – und das betont Gabriele Brucker mehrfach – das Gerät keine Heilung möglich macht, sondern ausschließlich für Trainingszwecke genützt wird. Nicht nur Menschen mit einer Querschnittlähmung können davon profitieren, sondern auch Schlaganfall-Patient:innen, Patient:innen, die ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben und generell alle, die in der Senkrechten mit dem Gehen Probleme haben. Das Gerät kann auf die individuellen Bedürfnisse eingestellt werden. Voraussetzungen, die der Patient/die Patientin mitbringen muss, sind eine ausreichende Knochendichte, eine gewisse Beweglichkeit und kognitive Fähigkeiten. „Wir müssen mit dem Patienten, mit der Patientin kommunizieren können“, erklärt Andreas Salvenmoser.
Da der VST die Kosten für das Gerät übernimmt, kann das „Balance“-Team die Einheiten wie jede andere Physiotherapiestunde verrechnen, die Gesundheitskasse übernimmt einen Teil der Kosten.
Für den Rest des Jahres bleibt das Exoskelett bei „Balance“ im Einsatz, danach wird man evaluieren und entscheiden, ob es dauerhaft angeschafft wird. Es hängt auch davon ab, ob man die notwendige Auslastung erreicht. Betroffene melden sich am besten gleich an:
Physiotherapie-Praxis
Balance, Kitzbühel,
Tel. 05356 66536
Doris Martinz