Warum Dr. Georg Woertz keine „Fälle“, sondern immer Menschen behandeln wollte, von Glück, Leid und mehr.
40 Jahre lang war Dr. Georg Woertz praktischer Arzt in St. Johann. Als ich ihn daheim zum Gespräch treffe, führt mich seine Frau Monika durch die alte Praxis. Die Räume sind nun schon seit zehn Jahren verwaist, und doch ist es so, als wären hier gerade am Vortag noch Patientinnen und Patienten behandelt worden. Freilich hat sich dort und da „Zeug“ angehäuft, es stapeln sich Schachteln und gelesene Zeitschriften. Und doch ist der Blick in die Räumlichkeiten wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Georg erzählt mir wenig später ausführlich von seinen Jahren als „Doktor“ – von vielen schönen und auch traurigen Begebenheiten, die er während der Jahrzehnte an der Seite der St. Johannerinnen und St. Johanner erlebte.
Im Alter von 65 Jahren übergab der heute 75-Jährige seine Praxis an Dr. Maria Krepper. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn sein Beruf sei immer seine Leidenschaft gewesen, sagt er. Er war auch Sprengelarzt und mit vielfältigen Aufgaben betraut: Er war Schularzt, in seinen Aufgabenbereich fielen zudem auch die öffentliche Hygiene und sanitätsbehördliche Themen, das Leichen- und Bestattungswesen, die Totenbeschau und vieles mehr. Besonders interessierte ihn die Gerichtsmedizin, und hier der forensische Aspekt: „Zu meinen Aufgaben gehörte es zum Beispiel festzustellen, ob das Mütterchen mit 98 Jahren im Krankenbett wirklich eines natürlichen Todes gestorben ist, oder ob da vielleicht jemand nachgeholfen hat“, erzählt er. Bei allen Todesfällen sei ja zu prüfen, ob Fremdeinwirkung auszuschließen ist, deshalb habe er viele Jahre lang intensiv mit der Exekutive zusammengearbeitet. „Das waren manchmal richtige Krimis, die ich erlebt habe“, erinnert sich Georg. „Das hat mich sehr gereizt und war mir nie zu viel. Das war quasi mein Zuckerl im Mediziner-Alltag.“
Schicksalshafte Zeit in Rauris
Georg ist ein „Zuagroaster“, wie er selbst sagt, er stammt aus Innsbruck. Sein Vater, Jahrgang 1884, war 83 Jahre alt, als Georg die Matura ablegte. Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen, aber der Vater unterstützte seinen Sohn, so gut es ging. Er erlebte dessen Promotion und sogar noch die Geburt der ersten beiden Enkelkinder. Als Jugendlicher war Georg Mitglied bei den Pfadfindern und hatte im Zuge eines Projekts die Möglichkeit, in der Steiermark das Segelfliegen zu erlernen. Später zog es ihn deshalb für eine Famulatur (Praktikum im Zuge des Medizin-Studiums, Anmerkung der Redaktion) in das Spital in Rottenmann, Steiermark. „Werden wir Sie am Wochenende unter oder über uns haben?“, fragte man ihn dort freitags.
Georg flog nicht nur übers Land, er „flog“ auch auf die hübsche Monika, Kinderkrankenschwester, medizinisch-technische Assistentin und Laborchefin in Rottenmann. Er verliebte sich in sie und in die liebevolle Art, wie sie mit ihren kleinen Patientinnen und Patienten umging. „Ich wusste bald: Das ist die Frau meines Lebens, mit der kann ich Kinder haben, die geht mit mir durch dick und dünn.“
Monika folgte Georg nach Innsbruck, noch während seines Studiums wurde geheiratet. Die ersten beiden Kinder, Michael und Alexander, kamen in der Landeshauptstadt zur Welt. Eigentlich wollte Georg Unfallchirurg werden, aber ein Aufenthalt in Rauris veränderte alles: Georg übernahm hier während der Turnusjahre aushilfsweise die Praxis des niedergelassenen Arztes. Die Zeit in Rauris zeigte ihm das gesamte Universum der Medizin auf: Er behandelte Babys und Kinder, Schwangere, er nähte Wunden, verschrieb Grippemittel, untersuchte Augen und Ohren und vieles mehr. „Da habe ich die Leute lieben gelernt mit all ihren Sorgen und Problemen.“ Er habe nach seinen Erfahrungen in Rauris keine „Fälle“ im Krankenhaus mehr bearbeiten wollen, sondern die Menschen von der Wiege bis an ihr Sterbebett begleiten, so Georg. Als sich später in St. Johann die Möglichkeit bot, eine Praxis zu übernehmen, ergriff er die Chance und kam mit seiner Familie nach „Sainihåns“.
Das gesamte Leben
Die ersten Monate seien in puncto Patientenaufkommen überschaubar gewesen, erinnert sich Georg lächelnd. Die ersten, die in die Praxis kamen, waren der Abo-Verkäufer der Tiroler Tageszeitung, der Bestatter und der Optiker – auf gute Zusammenarbeit und viele Brillenrezepte. „Im ersten Quartal hätte ich einen Schilling und 30 Groschen verdient, der Betrag wurde wegen Geringfügigkeit aber von der Krankenkasse nicht ausbezahlt“, erzählt Georg schmunzelnd. Es sei aber schnell bergauf gegangen. Die Leute merkten, dass er gut auf sie schaute und sich Zeit nahm, um auf ihre Bedürfnisse und Sorgen einzugehen.
Georg war der letzte Arzt im Bezirk, der Hausgeburten vornahm. Er begleitete den Säugling, das Schulkind, die Jugendlichen mit ihren pubertären Problemen, Erwachsene, die Senioren, die Sterbenden – Frauen wie Männer – die gesamte Breite, das gesamte Leben. Besonders interessierte ihn auch die Hämatologie („Lehre vom Blut“), Monika übernahm Harnbestimmungen, bakteriologische Untersuchungen, Untersuchung von Rückenmarksflüssigkeit. Georg führte Knochenmarkpunktionen durch, er nähte gerissene Sehnen und Riss-Quetsch-Wunden, hatte ein kleines Röntgengerät, er renkte Finger und Unterarme ein und nahm sich auch der Psyche seiner Patientinnen und Patienten an. Er kannte sie buchstäblich von innen und außen, wusste vieles über ihre Lebensumstände. Er übernahm Versorgungsaufgaben, die heute nur mehr in den Krankenhäusern abgedeckt werden. Die Vielfalt faszinierte ihn. „Als Allgemeinmediziner bist du im Schützengraben herinnen, du musst alles auffangen. Du musst versorgen, rund um die Uhr da sein, musst selektieren. Erst was der Hausarzt gesehen hat, wird eventuell ins Krankenhaus oder in andere Einrichtungen überwiesen.“ Um diese schwerwiegenden Entscheidungen treffen zu können, braucht es ein umfassendes medizinisches Wissen. Deshalb ist die Allgemeinmedizin für Georg die „Krone der Medizin“. Was er auch sagt: „Der Begriff der ,Work Life Balance’ verträgt sich nicht mit dem Schützengraben.“
Georg war viele Stunden des Tages für seine Patient:innen da, er und seine Frau arbeiteten oft bis spät in den Abend hinein. Dass Monika das alles mittrug und mitlebte, erfülle ihn mit großer Dankbarkeit, sagt er. Das Paar bekam insgesamt vier Kinder: Zu Michael und Alexander gesellten sich noch Christoph und Bernadette. „Wir haben es nie bereut, dass wir hierhergekommen sind. Wir sind hier daheim.“
Glück und Leid
Unzählige Geschichten weiß Georg aus seiner Zeit als Doktor zu berichten. Darunter auch tragische Begebenheiten, die ihn heute noch traurig stimmen. Der Tod war ein ständiger Begleiter. „Man kann nicht mitleiden, aber man kann den Menschen beistehen“, sagt Georg. Unzählige Male saß er am Sterbebett und war auch für die Angehörigen eine wichtige Stütze. „Der Bezug zum Tod ist heute ein anderer“, sagt er. „Früher wurde der oder die Tote offen aufgebahrt, die ganze Familie nahm in aller Ruhe Abschied, auch die Kleinsten. Heute wird alles verdrängt, fast ist der Tod ein ungelöster Notfall, bei dem jemand versagt hat. Das ist nicht richtig.“
Bei aller Tragik, die zum Leben gehört, gab es aber auch sehr viele schöne und so manch lustiges Erlebnis: Einmal meldete sich in der Nacht die Polizei bei Georg, weil man einen Mann festgenommen hatte, der auf dem Hauptplatz von St. Johann getobt und randaliert und sich die Kleidung vom Leib gerissen hatte. Wie sich herausstellte, hatte der Mann „Magic Mushrooms“ und nicht wenig Alkohol konsumiert. „Er hielt sich für den Hauptdarsteller der damals berühmten Fernsehserie Jackass“, erinnert sich der pensionierte Arzt. „Er ist dann später von seiner Mutter abgeholt worden“, erzählt er lachend. „Nüchtern, aber splitternackt.“
Noch heute werde Monika auf der Straße angesprochen, so Georg. Die Leute bitten sie, Grüße zu übermitteln und sagen, dass sie „ihren Doktor“ vermissen. „Das tut einem dann doch gut und zeigt, dass man nicht viel falsch gemacht hat“, sagt er. Er selbst ist derzeit kaum unterwegs im Ort, weil ihn ein Problem an seinem Fuß plagt. Er hat so viel gegeben, nun kann er mit gutem Gewissen selbst Hilfe annehmen …
Doris Martinz