Tracy und Gerhard Grassl sind Zeugen Jehovas. Im Gespräch geben sie Einblicke in ihre (Glaubens-)Welt.

Zeugen Jehovas? Das sind doch die, die kein Weihnachten und keine Geburtstage feiern und, sobald sie den Fuß in der Tür haben, nicht mehr loszukriegen sind. Jeder von uns hat solche und ähnliche Äußerungen schon gehört, jeder hat sich dazu sein eigenes Bild von den Mitgliedern dieser Glaubensgemeinschaft gemacht. Meist kein sehr vorteilhaftes. Ich habe ja schon lange den Verdacht, dass wir ihnen Unrecht tun. Deshalb treffe ich mich mit Tracy und Gerhard Grassl aus St. Johann, beide bekennende „Zeugen“, zum Gespräch im Postmarkt.
Tracy – Tochter einer amerikanischen Mutter und eines österreichischen Vaters – erwartet mich schon. Ihr Teint hat die Farbe hellen Nougats, sie hat schwarzes, gekräuseltes Haar und lächelt mich mit strahlend weißen Zähnen an. Gerhard stößt ein paar Minuten später zu uns. Die beiden kamen vor sieben Jahren aus dem Raum Schwaz nach St. Johann, weil Gerhard hier bei der Firma Pal einen passenden Job fand – die Anstellung bietet ihm mehr Zeit für Familie und Glauben. Das Paar fand schnell Anschluss, vor allem auch in seiner Glaubensgemeinschaft.
Tracy arbeitete als Einzelhandelskauffrau in verschiedenen Modegeschäften, bevor sie Mutter wurde. Seitdem ihr gemeinsamer Sohn Emilio auf der Welt ist, verdient sie sich als Reinigungskraft etwas Geld, und sie unterstützt ihren Mann bei der Koordination der Audio-Video-Anlagen in den Anbetungsstätten der Zeugen Jehovas in ganz Österreich. Emilio sei jetzt 13 Jahre alt und besuche die vierte Klasse der Mittelschule, erzählt Tracy.

Kein Geburtstag, kein Weihnachten

Tracy und Gerhard wurden in Familien hineingeboren, in denen ihre Religion praktiziert wird. Als Kind hätten sie ihr Anderssein nicht wahrgenommen. „Aber das änderte sich in der Schule“, erinnert sich Gerhard. Die Zeugen Jehovas begehen nämlich keine Feiertage – außer die Gedenkfeier zur Erinnerung an den Tod Jesu. Auch Weihnachten spielt keine Rolle. Denn: „Aus der Bibel geht hervor, dass Jesus nicht im Winter auf die Welt gekommen sein kann“, meint Gerhard. Die ersten Christen kannten ja auch kein Weihnachten, das Fest wurde erst im vierten Jahrhundert eingeführt. Diese Tatsache und jene, dass Jesus laut Bibel nie seinen Geburtstag erwähnte, ist der Grund dafür, dass für die Zeugen Jehovas weder Weihnachten noch Geburtstage relevant sind. „Egal, um welche Tradition es sich handelt“, erklärt Tracy, „wir versuchen immer, ihr auf den Grund zu gehen und schauen, ob sie mit der Bibel übereinstimmt, ob sie für unseren Gott in Ordnung sein kann. Dann entscheiden wir.“ Dass sie die Feiertage nicht begehen, heiße aber nicht, dass sie gänzlich auf gemeinsame Feste verzichten, ganz im Gegenteil, so Tracy: „Wir nutzen viele Gelegenheiten, um zu feiern und Spaß zu haben!“
Aber haben denn sie und ihr Mann zumindest als Jugendliche nie mit ihrem Glauben gehadert, wollten sie nie einfach nur so sein wie die anderen? Diese Phasen habe es schon gegeben, gesteht Tracy. Es sei ihr als Kind mitunter schwergefallen, nicht mit den anderen in der Schule zu feiern. Aber sie habe sich später intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt und darin Antwort und Anleitung gefunden. Bei Gerhard war es ähnlich. Er könne beispielsweise gut damit umgehen, seinen Geburtstag nicht zu feiern. Interessant sei es zu sehen, dass sich das Umfeld damit viel schwerer tue. „Ich lasse mir manchmal einfach gratulieren, weil es die Leute ja gut meinen“, sagt der 42-Jährige schmunzelnd.

Von Tür zu Tür

Dass Jesus für uns gestorben ist, das Opfer des Todes, sei für die „Zeugen“ einer der wichtigsten Aspekte ihres Glaubens, erklärt Gerhard. Er und Tracy würden mit Freude den Tag erwarten, an dem auf Erden der Wille Gottes durchgesetzt werde, an dem Jesus zurückkehre. „Es wird wohl nicht mehr allzu lange dauern“, meint er. In der Bibel stehe, es werde Kriege geben, Mangel, Seuchen und Überschwemmungen. Es klingt wie die Zusammenfassung der Tagesschau.
Tracy und Gerhard gehen mehrmals wöchentlich von Tür zu Tür, um den Menschen die Botschaft zu verkünden, dass Jesus kommen wird, um uns zu erlösen. Dass wir uns keine übermäßigen Sorgen machen müssen, denn Gott, Jehova, werde für Ordnung sorgen. „Aber der Großteil der Menschen bevorzugt ein Leben ohne Gott“, sagt Gerhard mit ehrlichem Bedauern in der Stimme. Die meisten Menschen, an deren Türen sie klopfen, seien gleichgültig, manche ärgerlich: „Sie fürchten einen Ansehensverlust, wenn sie die Nachbarn beim Gespräch mit uns beobachten“, vermutet Gerhard. Sei man an der Botschaft der Zeugen Jehovas wirklich nicht interessiert, genüge es, das ganz klar zu kommunizieren. „Wir setzen dann unsere Zeit anders ein.“
Das Desinteresse nehmen die Grassl nicht persönlich: „Es tut uns nur leid, dass die Menschen eine Chance nicht wahrnehmen“, sagt Tracy. „Viele machen einfach, was sie wollen und nützen die Freiheit, die Gott uns geschenkt hat, auf denkbar schlechte Weise. Sie machen sich selbst unglücklich“, so die 39-Jährige weiter. Dabei habe jeder die Möglichkeit, sich nach der Bibel zu orientieren, weil sie nach ihrer Auffassung zum Wohle der Menschen verfasst wurde. „Ein Gebot heißt ja zum Beispiel, du sollst nicht töten. Jede Religion, die ihre Anhänger auffordert, Andersgläubige oder Angehörige anderer Kulturen und Staaten umzubringen, kann daher nicht recht haben“, sagt Gerhard.
Die „goldene Regel“, nach der die „Zeugen“ leben ist jene, die Jesus gepredigt hat: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. „Wenn wir nur diesen einzigen Satz konsequent anwenden würden, hätte die Menschheit 90 Prozent ihrer Probleme nicht“, sagt Gerhard. Damit hat er wohl recht.

Glaube ohne Angst

Die Grundlage ihres Glaubens ist die Bibel. „Wir vertrauen auf Paulus, der sagt, dass die ganze Heilige Schrift von Gott inspiriert ist“, erklärt Gerhard. „Das ist der Grund, warum wir vieles wortwörtlich nehmen.“ Wenn sich eine Zeugin oder ein Zeuge Jehovas nicht an die Gebote hält und sie immer und immer wieder absichtlich übertritt, wird er oder sie aus der Versammlung entfernt. Angst vor einem strafenden Gott haben die „Bibelforscher“, wie man die Zeugen Jehovas in früheren Zeiten auch nannte, aber nicht. Denn Jehova liebt und verzeiht, wenn die Reue aufrichtig ist. Die „Zeugen“ unterlassen Sünden, weil sie ihren Gott nicht verletzen wollen. „Wie man einen Vater ehrt und versucht, seinen Ratschlägen zu folgen“, erklärt Tracy.
Nun muss ich aber doch auch noch nach dem „Klassiker“ fragen – der Blutspende­ oder -transfusion, beides lehnen Zeugen Jehovas ja ab. Denn die Bibel gebietet, sich vom „Blut zu enthalten“. Was also, wenn in der Familie der schlimmste Fall eintreten würde? „Das wäre die härteste Entscheidung. Aber wenn es so käme, wüssten wir, was zu tun ist“, antwortet Gerhard, und Tracy nickt dazu. Die Medizin sei heute so weit, dass eine Bluttransfusion nur mehr in den seltensten Fällen die einzige Lösung für ein medizinisches Problem sei, man könne vielfach vorsorgen und anerkannte blutlose Alternativen finden. Die beiden haben sich damit auseinandergesetzt, das spürt man. Denn sie sind Eltern.
Sie lernten sich übrigens bei Veranstaltungen der Glaubensgemeinschaft kennen und lieben. Geschlechtsverkehr vor der Ehe? Gerhard lächelt breit und schüttelt den Kopf. „Natürlich nicht“, sagt er.

Leben in Geborgenheit

Immer und immer wieder müssen Tracy und Gerhard – wie auch ihre Brüder und Schwestern, so nennen sich die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft – sich und ihren Glauben verteidigen. Es wäre doch viel einfacher, die Gemeinschaft zu verlassen und nach den Regeln der Allgemeinheit zu leben. Warum tun sie es nicht, was hält sie? „Wir leben in Geborgenheit und Sicherheit und haben eine klare Linie im Leben“, sagt Tracy ohne Umschweife, sie muss nicht lange überlegen. Ihr Lächeln wirkt offen und wie erleichtert. Sie könne sich in allen Lebenslagen auf Jehova verlassen. „Mein Schöpfer ist mein bester Freund.“ „Der Glaube ist unsere größte Kraftquelle“, so drückt es Gerhard aus. „Wenn ich ein Problem habe, dann spreche ich mit ihm und bitte um Hilfe. Es funktioniert immer, ich bekomme immer eine Antwort.“ Man könne sich nach seinen Ratschlägen richten – auch wenn man es manchmal nicht perfekt schaffe. „Das ist wie mit unseren Kindern: Wir wollen stets das Beste für sie, aber sie haben das Recht, Fehler zu machen.“
Tracy und Gerhard haben viele Freunde, doch nur wenige außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft. Ich finde das schade. Denn es gibt viel mehr Verbindendes als Trennendes. Ich denke sogar, wir könnten uns von den Zeugen Jehovas das eine oder andere abschauen: Zum Beispiel, dass sie ihre Werte pflegen und danach leben. „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ oder auch „Was du nicht willst, das man dir tue, das füge auch keinem anderen zu.“ Eigentlich wäre es ganz einfach.
Doris Martinz

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