HORST EDER KANN EINIGES INTERESSANTES AUS SEINER KINDHEIT BERICHTEN

Die traurige­ Vorge­schichte

„Die Sied­lung“, das war seit jeher die Bezeichnung für die Häuser in der Bozner- und Meraner Straße in St. Johann, die in den frühen 1940er-Jahren entstanden. Und das hatte geschichtliche Hintergründe. Die deutschsprachigen Bewohner von Südtirol hatten damals keine leichte Zeit, die Faschisten unter Mussolini stellten sie vor die Wahl: Italiener werden, also Sprache und alte Bräuche aufgeben, oder aussiedeln! Das legten Hitler und Mussolini bei ihrem denkwürdigen Treffen 1939 in Rom fest. Das Deutsche Reich bot den aussiedlungswilligen Südtirolern Lebensräume nördlich des Brenners an. Bei der folgenden Abstimmung sprachen sich ca. 85% für die „Option“, also für die Aussiedlung aus, tatsächlich das Land verlassen haben aber dann doch „nur“ rund 75.000 Südtiroler, das waren immerhin noch 30% der Einwohner. Es musste also Wohnraum geschaffen werden im Deutschen Reich, zu dem Österreich ja damals gehörte. Und so entstanden zahlreiche Siedlungen im Land mit dem bezeichnenden­ Namen „Neue Heimat“, so auch in St. Johann.

Als Nordtiroler in der Südtiroler Siedlung

Es gab jedoch zu dieser Zeit auch unter der einheimischen Bevölkerung einen großen Bedarf an Wohnungen für junge Familien, also wurde festgelegt, dass in jedem Haus der neu entstandenen Siedlung auch einer Nordtiroler Familie eine Wohnung zugesprochen wurde. Und im Haus Bozner Straße 11 war das unsere Familie! So kam ich als viertes Kind an einem März-Sonntag 1944 zur Welt, als Hausgeburt, das Krankenhaus gab es damals in bescheidener Art, aber ohne Geburtenstation. Neben der Hebamme gab es Unterstützung von einem jungen Mädchen, das in der NS-Zeit sein „Pflichtjahr“ zu absolvieren hatte. Die Wohnung war um die 60 Quadratmeter groß, eine geräumige Küche mit Abwasch und einem kombinierten Heiz- und E-Herd mit einem Backrohr und zwei Herdplatten, das Kinderzimmer war klein, im Bad gab es einen großen Boiler, alles Sachen, die zur damaligen Zeit „gehobener Standard“ waren. Nur die Badewanne fehlte, das war den einzelnen Familien selbst überlassen, und es dauerte bei uns – und auch anderswo – eine geraume Zeit. In den beiden Zimmern standen kleine Gußeisen-Öfen, die von uns aber nie in Betrieb genommen wurden. Wenn’s richtig kalt war, gab’s eine andere Art zur Wärmung, da wurde ein roter Ziegel auf der Herdplatte oder im Rohr erwärmt, in ein Tuch eingeschlagen und ins Bett gelegt. In der Nacht gab’s dann manchmal einen Rumpler, wenn der Ziegel aus dem Bett fiel.

Luftschutzkeller als Gewerberaum

Bereits beim Bau der Häuser rechnete man offensichtlich mit eventuellen Bombardierungen, jedes Haus erhielt einen Luftschutzkeller, in dem sich bei Bombenalarm die Hausgemeinschaft zusammenfand. Und tatsächlich fielen Bomben auf St. Johann, geplant war ein Angriff auf Bahnhof und Bahnstrecke, diese Ziele wurden gottseidank weit verfehlt, die Bombentrichter östlich des Baumooslifts sind noch sichtbar. Nach dem Krieg wurden die Luftschutzkeller umfunktioniert, so gab es dann im Haus Bozner Straße 12 die Schlosserei von Franz und Sohn Hubert Oberschmid bis ins Jahr 1962, wir hörten dann öfters das Hämmern, wenn schöne kunstvolle Schmiedearbeiten entstanden. In unserem Haus gab’s kurze Zeit eine Tischlerei, die David Oberleiter betrieb, wir schauten über’s Kellerfenster gerne zu, wenn gehobelt wurde und die Späne nur so flogen. Ein weiterer Betrieb war im Keller vom Haus Nr. 3, da hatte der „Egger-Hansi“ seine Flickschusterei.

Die Ami in der Siedlung

1945, der Krieg war vorbei, kam eines Tages ein amerikanischer Soldat in unser Haus und sprach mit schlechtem, aber verständlichem Deutsch die Aufforderung aus, dass in zwei Stunden das Haus geräumt sein muss, für drei Tage brauche die „Army“ ein Quartier. Unsere Familie übersiedelte also in Mutters Daheim, Severn, oberhalb vom Rummlerhof. Die Amis hinterließen die Wohnung sauber, und zur großen Freude fand unsere Mutter einen großen Wecken Weißbrot und ein Stück feinster Seife vor. Nach Beendigung des Krieges wollten die Siegermächte nicht mehr den Fehler machen, der nach dem Ersten Weltkrieg passiert war, als man die Verlierer Deutschland und Österreich arg knebelte, die Wirtschaft demontierte, die Lebensbedingungen so streng hielt, dass es dann für die Nationalsozialisten ein Leichtes war, Zustimmung und Wahlen zu gewinnen. Der „Marshall-Plan“ entstand, benannt nach dem damaligen amerikanischen Außenminister. Hinter dem „Mesner-Haus“ (heute das Gemeindeamt) wurde Ende der 1940er-Jahre ein Zelt aufgestellt, in dem der „ERP“-Plan mit Propaganda-­Filmen vorgestellt wurde, für uns Kinder ein willkommenes Kino, zumal auch Zeichentrick-Filme dabei waren. Alles zielte auf ein friedvolles Miteinander, auf Zusammenarbeit und Toleranz ab. Ich erinnere mich noch an die große Spannung, als wir einmal ein „Care-Paket“ erhielten, der Inhalt waren Grundnahrungsmittel, aber auch ein paar Konserven mit feinen Früchten; die ganze Familie freute sich!

Viel Spielraum in der Siedlung und beim Mur

Die Wohnungen wurden in erster Linie mit Holz und Kohle beheizt, was zur Folge hatte, dass es in der ganzen Siedlung zahlreiche Holzstapel gab, ein idealer Platz für das Versteckenspiel oder „Räuber und Schandi“. Dazu muss gesagt werden, dass es keine sogenannten „Rasenflächen“ gab, es stand uns alles frei zur Verfügung für Fußball, Völkerball und „Der Kaiser schickt Soldaten aus“. Sehr beliebt war das „Spaggern“, bei jedem Haus gab es eine Grube, es entstanden oft spannende Turniere. Wenn die Fieberbrunner Ache Hochwasser führte, rückten unsere Väter mit Zapin oder ähnlichem Werkzeug an, um Schwemmholz im Bereich vom Mur aus der Ache zu fischen. Diese Art, zu Holz zu kommen, war legal und ist es – meines Wissens – auch heute noch. Das Holzfischen ist natürlich nicht ungefährlich, aber es ist nie etwas passiert. A propos Mur: da ergab es sich, dass an schönen Tagen es nur so wimmelte, Mur und die Bassins zur Wieshofermühle waren unser Schwimmbad, gratis noch dazu. Da gab es eine Mutprobe für die schneidigen Schwimmer, die „Weltreise“: von der Ache eintauchen, die drei Bassins durchtauchen und zuletzt durch den „Sauger“ wieder zur Ache. Hans Obermoser und Hugo Fuchs holten sich des öfteren den Applaus für dieses Wagnis.

Einkaufen in der Siedlung

Im Haus Bozner Straße 1, dort, wo später dann einmal das Meldeamt angesiedelt war, gab es ein kleines Lebensmittelgeschäft der Familie Fraß. Auf ein paar Quadratmetern erhielt man so manches, was man zum Leben benötigte, die Auswahl war minimal. Etwas besser war die Auswahl bei der „Hain-Lisl“ in der Bahnhofstraße, da, wo heute das Sanitätshaus Kostner ist. Die gute Frau hatte neben den Lebensmitteln auch Tabak, Wolle und Stoffe. Brot, Wurst, Milch, Käse, Obst und Gemüse gab’s in diesen Läden nicht, das war dem Bäcker, dem Metzger, der Molkerei und der Schloif-Mitzi und ihrem Fritz (da, wo heute „Palmers“ ist) vorbehalten. Beim Einkauf damals war vor allem eines angesagt: viel Geduld. Die Molkerei (damals hinter der Fa. Brunnschmid) hatte am Sonntag Vormittag zwei Stunden geöffnet, ein Kühlschrank fehlte damals noch in den Haushalten. Manchmal geriet in der Produktion der „Romadur“ nicht ganz, er war zu weich, also spendete uns die Frau Hölzl des öfteren eine Portion des feinen Brotaufstrichs.

Wintersport am Putzerbichl und am Konsulbichl

Jedes Haus hatte einen Namen, einfach so entstanden. Da gab’s das Schramböck-Haus, das Sternad-Haus, das Pali-Haus, das Kronthaler-Haus usw.. Hinter dem Putzer-Haus, Nr. 9, befand sich noch ein Hügel, Aushub-Erde, die nie anplaniert wurde. Dieser Bichl erhielt den Namen „Putzer-Bichl“ und wurde im Winter zum beliebten Treffpunkt der Siedlungskinder. Zwei Meter Höhenunterschied genügten für vergnüglichen Wintersport mit Rodel und Schi. Ein zweiter beliebter Ort war der Konsul-Bichl gegenüber unseres Bahnhofs. Warum Konsul-Bichl? Die Bräu-Villa der Familie Huber übernahm nach dem Krieg die Familie Töpke, und Herr Töpke sen. war Konsul, also war der Name des Bichls fast logisch. Der Weg hin zum Konsul-Bichl war eher abenteuerlich: über die Bahngleise und durch die Klausnersäge! Das wurde einige Zeit geduldet, dann aber verboten, der Weg führte dann über Baumoos oder die Unterführung „beim Doktor Angerer“, aber der Schibetrieb verlagerte sich bald in Richtung Nasen und Windegg, weil dort ein Schlittenlift und später die Standseilbahn entstand.
Zum Putzerbichl: nach vielen Jahren entschloss man sich, den Bichl abzutragen und das Aushubmaterial doch noch zu planieren. Und da kamen allerhand brisante Dinge zutage: Kisten mit Munition und Granaten. Unser „brisanter“ Ski- und Rodelbühel!

Radunion als Straßensanierer

Roman Putzer war der erste­ Obmann der Rad-Union St. Johann, und wir bestaunten die Rennradfahrer, wenn sie mit ihren tollen Rädern und bunten Trikots beim Obmann vorbeikamen. Mitte­ der 1950er-Jahre war dann einmal ein Radkriterium in St. Johann angesagt, die Streckenführung war geplant: Hauptplatz – Speckbacherstraße – Bräuweg – Bahnhofstraße – Hauptplatz. Einen Tag vor dem Rennen untersagte die Behörde dann das Rennen, verkehrsbedingt. Als Ersatzstrecke kam Meraner Straße – Fieberbrunner Straße – Bozner Straße in Betracht, aber das hatte einen Haken. Die Bozner Straße war damals nicht asphaltiert und in einem desolaten Zustand, ein Schlagloch neben dem anderen. Also vergatterte Roman Putzer seine Mannen, besorgte entsprechendes Füllmaterial, und die Radler reparierten unsere Straße. Das Rennen fand aber dann doch auf der ursprünglich geplanten Strecke statt, die Bewohner der Bozner Straße freuten sich über die sanierte Straße.
Horst Eder