Wie viel Raum geben wir dem Tod und der Trauer noch? Ein Gespräch mit Bestatter Helmuth Treffer und seiner Frau Hedy.
November. Die Natur zieht sich zurück, sie bereitet sich auf den Winterschlaf vor. Die Bäume verlieren ihre Blätter, die letzten Blumen verblühen, ein Abschiednehmen überall. Es ist wohl kein Zufall, dass auch der Tag, an dem wir in unserem Kulturkreis der Verstorbenen gedenken, in diese Zeit fällt. Zu Allerheiligen sind die Gräber geschmückt, und selbst viele von jenen, die das ganze Jahr über keine Kirche von innen sehen, nehmen am Gedenkgottesdienst und an der Gräberweihe teil. Obwohl: Es sind ihrer weniger geworden, weiß Helmuth Treffer, Bestatter in St. Johann. „Gerade die Jungen haben oft keinen Bezug mehr zur Kirche, für sie ist Allerheiligen einfach ein willkommener Feiertag“, sagt er. Es sind aber nicht nur die Jungen, die mit dem Thema Tod nichts anfangen können, sondern auch ihre Eltern. Denn der Tod hat in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr.
Als ob wir ewig lebten
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war das anders: Großfamilien lebten meist gemeinsam unter einem Dach, und wenn die Alten oder auch jüngere Familienmitglieder starben, wurden sie daheim aufgebahrt. Schon die Kleinsten nahmen Abschied, sie lernten den Tod als Teil des Lebens kennen. Spätestens nach den beiden Weltkriegen wurde der Tod aus unserer Mitte verbannt. Vielleicht, weil er zu viele Wunden riss. Seitdem sterben die meisten Menschen im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Wir sprechen nicht darüber. Und noch schlimmer: Wir setzen uns mit der eigenen Endlichkeit nicht auseinander, wir verdrängen sie. Tun so, als ob wir ewig lebten. Viele von uns wagen es nicht einmal, gegenüber sehr alten, kranken Menschen das Thema anzuschneiden. Dabei verliert gerade für die Alten das Thema oft den Schrecken. Mit ihnen über den Tod zu sprechen, über das Sterben, kann heilsam sein – für alle.
Auch Kindern gegenüber sollten wir einen offeneren Umgang mit dem Tod pflegen, ihre kindliche Neugierde befriedigen. „Manchmal haben Kinder den Wunsch, noch einmal in den Sarg zu schauen, um sich von Oma oder Opa zu verabschieden,“ erzählt Treffer. Wenn es möglich sei, solle man diesem Wunsch entsprechen. „Kinder haben viel Phantasie. Die Bilder, die sie sich selber ausmalen und vielleicht auch im Fernsehen gesehen haben, können viel schlimmer und beängstigender Sein als die Realität.“
Alles muss schneller gehen
Auch die Rituale rund um das Sterben haben sich verändert, das stellen Helmuth Treffer und seine Frau Hedy täglich fest. „Früher hat man vor dem Begräbnis mindestens zweimal abends den Rosenkranz gebetet, wenn es über das Wochenende ging, sogar mehrmals. Jetzt hat es sich eingebürgert, dass nur mehr einmal zum Beten geladen wird“, erklärt Treffer. Kaum jemand will es sich „antun“, sich als Angehörige(r) mehrmals „hinzustellen“, um Bekannte und Freunde des/der Verstorbenen „abzunicken“. Händeschütteln und Umarmungen wurden schon vor Corona mehr oder weniger abgeschafft mit dem Zusatz auf der Trauerparte: „Wir bitten, von Beileidsbekundungen Abstand zu nehmen“. Was sich nun abzeichnet – vielleicht auch unterstützt durch die Corona-Pandemie – ist eine weitere Beschleunigung beim Abschiednehmen: Der Sarg wird immer öfter direkt vom Krankenhaus oder dem Ort, wo der oder die Angehörige verstorben ist, zur Kremation überführt. Der Trauergottesdienst oder die Trauerfeier findet mit der Urne statt, die anschließend gleich eingesegent wird. Wieder ein Weg gespart – bei einer Kremation nach der Trauerfeier muss die Urne nämlich nochmal extra beigesetzt werden. Und wer hat schon Zeit für Extratouren? Alles muss schnell gehen … Mit dem Hinweis auf das Virus wurde sogar nach Lockerung der Beschränkungen so manche Trauerfeier abgesagt, der Leichnam kremiert und die Urne im engsten Familienkreis mit einem Vaterunser bestattet – fertig. Ist das die Zukunft?
Drei Tage oder mehr?
Bestatter Treffer sieht diese Entwicklung mit Skepsis. Aus seiner Erfahrung weiß er, dass das Abschiednehmen Zeit benötigt. „Es heißt ja auch immer, dass die Seele eines Menschen drei Tage braucht, um sich vom Körper zu lösen“, erklärt er. Ob dem tatsächlich so sei, könne niemand mit Gewissheit sagen, räumt er ein. In anderen Kulturkreisen aber geht man sogar von einem noch viel längeren Zeitraum aus, von 21 Tagen und mehr. Vielleicht geht es auch weniger um den Verstorbenen, als um die Zeit, die wir als Hinterbliebene brauchen, um uns von ihm zu lösen? Vielleicht geht es uns einfach zu schnell, wenn der Leichnam sofort nach dem Todesfall kremiert wird? Vielleicht brauchen wir die sterbliche Hülle – den Leichnam im Sarg – bei der Trauerfeier, weil sie uns noch ein Gefühl von Nähe zum Verstorbenen gibt? „Wir wissen von Fällen, in denen die Hinterbliebenen bis heute Probleme mit dem Bewältigen ihrer Trauer haben, weil beim Begräbnis alles so schnell ging“, sagt Treffer.
Der Abschied wird kühler
Covid-19 hat in der Region, die Treffer abdeckt (St. Johann, Pillerseetal, Waidring, Kirchdorf, Kössen …) für eine geringere Sterblichkeit gesorgt und damit auch für weniger Umsatz beim Bestatter. Das ist es nicht, was ihn nachdenklich werden lässt, sondern „dass alles immer kühler wird“, formuliert er es. Dass wir uns keine Zeit für Rituale nehmen, für das Abschiednehmen und Trauern. „Kommt der Geist da mit?“, fragt er sich, „werden die Menschen das verkraften, wenn die Rituale so beschnitten werden?“
Helmuth Treffer, 63 Jahre alt, hat das Bestattungsgewerbe von seinem Vater übernommen, seit dem 15. Lebensjahr beschäftigt er sich mit dem Tod. Seine Frau Hedy, 62, unterstützt ihn dabei seit zwanzig Jahren. Sie kommt ursprünglich aus dem Gastgewerbe. „Das war das genaue Gegenteil von dem, was ich jetzt mache: Von Halligalli zu so einem sensiblen Thema. Aber es ist eine schöne Aufgabe“, erzählt sie. Wenn Angehörige zu ihr kommen, um die Details für das Begräbnis zu regeln, reden sie sich bei Hedy oft den ersten Schmerz von der Seele. Für Hedy ist es ein schönes Gefühl, ihnen Zeit geben zu können, einfach da zu sein.
Die Natur tut der Seele gut
Sie und ihr Mann versuchen, möglichst wenig von ihrer Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Das ist nicht immer leicht, gerade bei tragischen Todesfällen. Lilly, die lebhafte einjährige Mischlingshündin, die nach unserem Gespräch hereinkommt, hilft beim Abschalten. Jeden Tag sind Hedy und Helmuth mit Lilly in der Natur unterwegs, es geht über Wiesen und durch Wälder, das tut dem Körper und der Seele gut.
Der geschäftliche Alltag ist dann wieder geprägt von Bestattung und Trauer. Inzwischen werden zirka 75 % aller Verstorbenen kremiert. Viele alte Menschen wünschen sich ganz bewusst, eingeäschert zu werden, weil sie ihren Lieben keine Last sein wollen. Grabpflege ist mit Zeitaufwand verbunden, ein Urnengrab ist pflegeleichter. Und Zeit ist alles, wie wir wissen. Vielleicht nützen wir heuer den November – die Zeit, in der sich die Natur zurückzieht – dafür, über das Abschiednehmen nachzudenken? Es könnte heilsam sein.
Doris Martinz