Im August 2019 erkrankte Sylvia Döttlinger an Brustkrebs. Die St. Johannerin berichtet von einer schwierigen Zeit…

Wir treffen uns im Café Rainer. Ich bin pünktlich, aber Sylvia ist noch pünktlicher, sie wartet schon auf mich. Auf unser Gespräch musste sie sich nicht extra vorbereiten, denn sie hat über ihre Erkrankung und die Erfahrungen, die damit verbunden sind, schon ein Buch geschrieben – das zweite ging gerade in Druck. Mitte November lädt sie zu Lesungen und persönlichem Bericht ein (Termine siehe Textende).
Sie kommt damals, Ende August 2019, von einem schönen Familienurlaub mit ihrem Mann Robert und den gemeinsamen Söhnen Bastian und Fabian (Philipp, der älteste Sohn, war daheim geblieben) zurück. Sie ist aufgeladen mit Energie und freut sich auf die letzten Ferientage. Der Termin am 29.8. bei der Frauenärztin: reine Routine. Solange, bis die Ärztin das Geplauder unterbricht und die Stirn runzelt. Sie hat bei der Brustuntersuchung etwas gespürt. „Es klingt vielleicht komisch, aber von diesem allerersten Moment an habe ich gewusst, dass es Krebs war“, erinnert sich Sylvia. Eine Erkenntnis, die ihr den Boden unter den Füßen wegreißt. „Man sagt das so als Sprichwort. Aber die wenigsten können sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn es wirklich passiert. Es ist furchtbar.“ Es hilft Sylvia in diesem Moment nicht, dass man sie innerhalb der Familie zu beschwichtigen versucht: „Das ist sicher nichts Schlimmes, du bist ja keine Risikopatientin, hast drei Kinder gestillt, rauchst nicht, nimmst nicht die Pille, hast kein Übergewicht …“. Sie weiß es besser.
Dann geht es Schlag auf Schlag: Radiologische Untersuchung am nächsten Tag, Mammografie und Biopsie in Innsbruck, fünf Tage und quälend lange Nächte später die Befundbesprechung. Sylvia weiß mittlerweile mit Sicherheit, dass der Knoten in ihrer Brust bösartig ist. Sie hofft nur eines: Dass es wirklich nicht so schlimm ist, dass man das Karzinom noch im Anfangsstadium entdeckt hat und vor allem – dass sie keine Chemotherapie benötigen wird. Im Warteraum in der Klinik hängt gegenüber an der Wand das Bild einer Frau ohne Haare, mit blanker Glatze. „Alles, nur das bitte nicht“, fleht sie innerlich.

Fall ins Bodenlose

Und es schaut auch wirklich gut aus. Die Ärzte teilen Sylvia und ihrem Mann mit, dass der Krebs wahrscheinlich mit Operation, Bestrahlung und Hormonbehandlung zu besiegen sein wird. Beiden rutscht ein ganzer Fels von der Brust. Die folgende Operation verläuft gut, obwohl man später noch einmal nachschneiden muss, weil der Knoten größer als erwartet ist. Dann, einen Tag vor Philipps Maturaball, wieder Besprechung in der Klinik. Schon beim Hereinkommen sieht Sylvia dem Arzt an, dass etwas nicht stimmt. Und tatsächlich: Man hat Metastasen auf einem Lymphknoten entdeckt, entgegen aller Erwartungen, und auch der Rezidivtest (ein Test, der angibt, wie hoch das Risiko eines Rückfalls ist), fällt nicht gut aus. Zum ersten Mal fällt das „böse“ Wort Chemotherapie. „Da bin ich ins Bodenlose gefallen. Ich stand völlig neben mir, konnte und wollte es einfach nicht fassen. Man hatte doch alles gecheckt, warum war plötzlich alles anders? Ich dachte nur: Das kann doch nicht mir passieren, das kann doch nicht ich sein, von der dieser Arzt spricht“, schildert Sylvia ihre Emotionen. „Der totale Kontrollverlust, das Gefühl des hilflos Ausgeliefertseins, der Abhängigkeit vom Arzt, die Tatsache, dass er mein Schicksal in der Hand hatte, das war das Schlimmste.“ Philipps Maturaball am nächsten Tag ist schön, er lenkt Sylvia ab. Aber natürlich kann sie nicht ausgelassen mitfeiern. Nun muss sie auch intensivere Gespräche mit ihren Söhnen führen, entsprechend ihres Alters: Philipp, damals 18 und Bastian, damals 14, konfrontiert sie mit den ungeschönten Tatsachen, Fabian, 9, erklärt sie ihren Zustand kindgerecht. Die immer offene und ehrliche Kommunikation hilft der Familie, mit der Situation gut umzugehen. Die Buben nehmen die Nachricht gut auf. Sie sind überzeugt davon, dass ihre Mutter alles schaffen wird. Auch die „Chemo“.

Irrwitzige Hoffnung

Sylvia graust vor der ersten Therapie, und zugleich sehnt sie deren Beginn herbei. Insgesamt sechs Termine im Abstand von jeweils zirka 14 Tagen stehen an. Zwischen der ersten und zweiten Einheit werden die Haare ausfallen, klärt man Sylvia auf. Die Perückenmacherin kommt und zeigt ihr die verschiedensten Modelle. Sie mag eigentlich keines von ihnen. „Ich hatte die irrwitzige Hoffnung, dass ich vielleicht eine Ausnahme bin, dass es bei mir anders ist als bei allen anderen und ich meine Haare behalte“, erzählt Sylvia. Sie entscheidet sich für eine Perücke und klammert sich an die Hoffnung, bis sie etwa zehn Tage nach der ersten Chemotherapie zuerst beim Kämmen bemerkt, dass die Haare ausfallen. Bald sind sie überall: im Bett, im Bad, im Essen. Sylvia bittet einen befreundeten Friseur, sie abzurasieren. Er ist an jenem Sonntag fast nervöser als sie selbst. Zuerst versuchen die beiden, das Unabwendbare hinauszuzögern, aber schließlich kommt, was kommen muss: die Glatze. Sylvia versteckt ihr blankes Haupt. „Niemand außerhalb der Klinik hat mich je ohne Haare gesehen. Ich fühlte mich anfangs sehr unweiblich und nackt und wollte deshalb auch nicht, dass mich mein Mann und meine Kinder so wahrnehmen.“ Sylvia trägt auswärts – und wenn Besuch kommt (vor allem den Buben zuliebe) – die Perücke. Im Haus und auch zum Schlafen setzt sie eine dünne, weiche, feine Wollhaube auf. „Damit fühlte ich mich sicher und geschützt. Aber ich bewundere die Frauen, die erhobenen Hauptes mit Glatze durch die Klinik oder sogar auf der Straßen spazieren. Ich selbst habe mich nicht getraut.“ Anfang Jänner 2020 ist die Chemotherapie abgeschlossen. Mit flauem Magen und Übelkeit zwar, mit Tagen, an denen sie sich schwach und elend fühlte, aber immer war sie auf den Beinen. Den Haushalt erledigte sie mit Hilfe ihrer Schwiegermutter. Alles in allem übersteht Sylvia die „Chemo“ damals besser als befürchtet.

Es muss doch einen Grund geben?

Immer war Sylvia stolz auf ihr gutes Körpergefühl, auf ihre Feinfühligkeit. Wie konnte es sein, dass sie von einer so lebensbedrohlichen Erkrankung nichts spürte? Eine weitere Frage, die sie während der Wintermonate 2019/2020 beschäftigt, während der Therapie. Selbstmitleid und quälende Verunsicherung machen sich breit. Vielleicht hat sie sich falsch ernährt, vielleicht sollte sie lieber das Handy weglegen, den Schlafplatz entstören lassen, Alkohol und Zucker komplett weglassen? Es muss doch einen Grund für alles geben. Oder? „Es hat gedauert, bis ich wieder Vertrauen in meinen Körper gefasst habe“, so Sylvia. „Ich beneidete damals alle, die gesund waren. Weil ich wusste, dass es bei mir nie wieder so sein würde wie zuvor. Und das ist es auch nicht. Dafür ist der Einschnitt zu tief.“
Ende Februar beginnen die Bestrahlungen – insgesamt 30. Nun machen sich auch die Nebenwirkungen der Hormonbehandlung bemerkbar. Von einem Tag auf den anderen lösen die Medikamente quasi den „Wechsel“, die Menopause, aus. Sylvia schwitzt stark, in der Nacht, und auch untertags. Sie probiert alles Mögliche aus, doch eine Besserung will sich nicht einstellen. Im März 2020 feiert sie ihren 49-igsten Geburtstag, zwei Wochen später ist auch die Bestrahlung zu Ende. Alles ist gut gelaufen.
Darüber, dass Robert sie zu den meisten Terminen selber in die Klinik fuhr, ist sie heute noch froh. „Manchmal war ich so ferngesteuert, dass ich die Station wohl nicht gefunden hätte.“ Sylvia erinnert sich an einen besonderen Moment, in dem ihr die Unwirklichkeit der Situation richtig bewusst wird: Ein Pfleger schiebt sie in diesem Augenblick durch die unterirdischen Gänge der Klinik, vorbei an kahlen, leeren Wänden. „Passiert das gerade wirklich, bin das wirklich ich, die hier im Rollstuhl herumgeschoben wird?“, fragt sie sich. Die Antwort lautet „ja“. Unerbittlich, unleugbar, „ja, das bist du!“

Das Schreiben hilft

Sylvia führt heute ein in manchen Punkten anderes Leben – aber nicht unbedingt ein schlechteres. Der 29.2.2020 ist für sie ein Wendepunkt. An jenem Tag beschließt sie, alles aufzuschreiben, was ihr widerfahren ist. Das Schreiben ist wie eine Befreiung. Nach Abschluss aller Behandlungen überlegt sie, wieder in ihren Teilzeitjob (sie ist Sekretärin an der Berufsschule in Kitzbühel) einzusteigen. Vielleicht sollte sie aber besser mehr aus ihrem Potential machen, sich mehr ihren eigentlichen Interessen widmen? Es sind viele Fragen, die sich die 50-Jährige stellt. Es gibt viele Dinge, die sie hinterfragt.
Sie sei mutiger geworden, sagt sie, die Meinung der anderen sei für sie nicht mehr so wichtig wie noch vor zwei Jahren. Der Alltag hilft, das Erlebte zurückzulassen. Was bleibt, ist auf jeden Fall mehr Dankbarkeit für das, was ist. Für ihren Mann, die drei Buben, die ihr so viel Freude machen, das schöne Zuhause. Sylvia hat inzwischen einen Kurs für Mentalcoaching angefangen, im Dezember wird sie ihn abschließen. Erst nach der Erkrankung wurde ihr bewusst, dass sie als Entspannungstrainerin selbst gute Werkzeuge in der Hand hat, sich selbst zu helfen. Sie weiß jetzt, dass es keinen Sinn macht, das Glück woanders zu suchen – sondern in sich selbst. „Ich bin achtsamer geworden, will mein Leben bunter und abwechslungsreicher gestalten“, sagt sie. Dazu gehört, dass sie ihre Interessen wie Qi Gong und Yoga wieder mehr pflegt, auch die Bewegung in der Natur. Sie will die Zeit bewusster wahrnehmen, alleine oder mit der Familie. Es ist Sylvia ein Anliegen, allen Betroffenen Mut zu machen. „Es gilt, das Schicksal hinzunehmen und bei allen Tiefschlägen und schwierigen Momenten nie den Mut und die Zuversicht zu verlieren.“
Wohin die Reise in ihrem Leben ganz konkret geht, ist noch offen. Das Schreiben aber hat inzwischen einen festen Platz in ihrem Leben eingenommen. In Zukunft wird sie in der St. Johanner Zeitung immer wieder auch eine Kolumne gestalten und uns teilhaben lassen an ihren Erkenntnissen, die die Erkrankung brachte – und an ihrem „neuen“ Leben. Wir freuen uns darauf! 

Doris Martinz

 

Lesungen aus dem Buch „Mrs. Perfekt und das Unkraut im Garten“

12. November, 19 Uhr, Homebase
18. November, 19 Uhr, Café Nandl