Monika Neuner erzählt aus dem Leben von fünf Generationen der Familie Neuner in St. Johann – über Glück und Leid, von Höhen und Tiefen …

Schau, då, wo heit’ das Hotel Central steht, då håb i die Kiah k’hiat“, sagt Monika und deutet auf ein Bild des Hotels. Die Kuhweide gehörte in jenen Tagen, in denen Monika als „Kiahiaterin“ im Einsatz war, zum Bauernhof „Staudinger“. An jenen baute man einst die Pension Neuner, dann das Hotel Central auf der Kuhweide und viele Jahre später wurde das Hotel St. Johanner Hof ausgebaut. Aber der Reihe nach: Der Bauernhof „Staudinger“ stammt aus dem Jahr 1783. Wie er in den Besitz der Familie Neuner kam, ist schnell erzählt: Monikas Urgroßmutter war eine fesche „G’sellin“ und eine „wilde Henne“, die von einem reichen Kitzbüheler ein Kind erwartete. An eine Liebeshochzeit war nicht zu denken, der Kitzbüheler war nämlich schon verheiratet. Um sein Kind nicht ledig und mittellos aufwachsen zu lassen, kaufte er seinem „Seitensprung“ einen Bauernhof und im Prinzip auch gleich einen Vater für sein Kind mit dazu – er suchte und fand für Monikas Urgroßmutter einen Mann, der bereit war, Frau, Kind und Hof zu übernehmen. Besagtes Kind, Monikas Großvater Johann „Hans“ Neuner, kam 1881 zur Welt, wuchs auf dem Staudinger Hof unter der Obhut seines Ziehvaters auf und erbte später den Hof. Er war ein „lockerer Vogel“, wie es Monika ausdrückt, ein Musikant, der das Leben liebte und es mit der ehelichen Treue nicht immer ganz genau nahm. An seiner Lebenseinstellung änderten auch die Erfahrungen, die er als Soldat im ersten Weltkrieg machte, nichts. Er kam zum Glück wohlbehalten von der Front zurück und führte den Bauernhof weiter – unterstützt von seiner Frau, die am Hof schwer arbeitete und die fünf gemeinsamen Kinder aufzog. Aus Gründen, über die man heute nur mutmaßen kann, schloss sie sich eines Tages den Zeugen Jehovas an. Sie fand in dieser Religionsgemeinschaft wohl etwas, das ihr die Familie oder auch der katholische Glaube nicht zu geben vermochten.

Sechs Jahre im Konzentrationslager
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, wurde Monikas Großvater nicht wieder eingezogen. Er sollte am Hof bleiben und die Landwirtschaft am Laufen halten. Sein Sohn Sepp, der zwar geistig etwas eingeschränkt, aber tüchtig war, half ihm dabei. Auf die Unterstützung seiner Frau konnte er in den Kriegsjahren nicht zählen: Sie wurde als Anhängerin einer unerwünschten Religion in ein Konzentrationslager in Mitteldeutschland gebracht und musste dort harte Arbeit leisten – zum Beispiel beim Bau von Straßen und Brücken. In welchem KZ die Großmutter sechs Jahre lang Frondienst verrichtete, daran kann Monika sich nicht mehr erinnern. Sehr wohl aber an das, was sie nach dieser Zeit darüber sagte: Dass nämlich alles gar nicht so schlimm gewesen sei, arbeiten hätte sie daheim auch müssen, und im KZ seien ihr einige Dinge erspart geblieben. Vielleicht empfand sie es so, vielleicht war das, was sie erlebte, einfach unaussprechlich – „mia werden des nimmer dafrågn“, sagt Monika. Später bekam die Großmutter eine Entschädigung ausgezahlt, sie steckte das Geld in den Bau des Dachs für den Königreichssaal in St. Johann. Blieb auch sein Vater verschont, wurde doch Sohn Hans, Monikas Vater, eingezogen. Er war zwanzig Jahre alt, als man ihn 1937 abholte, um aus ihm einen Sanitäter im bevorstehenden Krieg zu machen. Er sollte acht Jahre lang, bis Kriegsende, in den Diensten der Wehrmacht stehen.

Hans und Franzi
Als Sanitäter war Hans Neuner viele Jahre in Russland im Einsatz. Mit dem Militär erklomm er den „Elbrus“, den mit 5.642 Meter höchsten Berg Europas. „Da Våta hat immer wieder davon erzählt, wie wichtig es für die Wehrmåcht wår, då oben die deutsche Fahne zu hissen.“
Er war im Krieg auch zuständig für die Organisation des Nachschubs an die Front und hielt sich dafür immer wieder in München auf. Während einer Fahrt mit der Straßenbahn verliebte er sich dort in die hübsche Straßenbahnschaffnerin Franziska, „Franzi“. Um bei der Beamtentochter Eindruck zu machen, erzählte er mit den schönsten Worten von dem großen Gut, das ihm in Tirol gehöre. Ob es an seinem Charme lag oder an seinen Schilderungen – er hatte Erfolg.
Auf jeden Fall hatte er aber auch den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen. Während eines Heimaturlaubs im letzten Kriegsjahr ließ er am Stammtisch im „Bären“ keinen Zweifel aufkommen darüber, dass der Krieg wohl verloren und dass es der pure Wahnsinn sei, die jungen Leute noch an die Front und damit in den sicheren Tod zu schicken. Es kam, wie es kommen musste: Er wurde angezeigt, verhaftet und bei einer Gerichtsverhandlung in Kitzbühel dazu verurteilt, sich in Berlin einem Selbstmordkommando anzuschließen. Mit Handschellen setzte man ihn in St. Johann in den Zug. Noch vor der Grenze bei Kufstein, als der Zug aufgrund einer Steigung langsamer fahren musste, folgte die Holly­woodreife Flucht: Hans sagte, er müsse zur Toilette, ließ sich die Handschellen abnehmen und entkam mit einem waghalsigen Sprung aus dem WC-Fenster. Statt nach Hause zurückzukehren, wo man ihn gewiss erneut aufgegriffen hätte, entschied er sich, sich zu seiner Franzi nach Deggendorf durchzuschlagen, die damals in dieser Stadt in der Nähe von Passau wohnte. 180 Kilometer hatte er dafür zurückzulegen, immer versteckt in Wald und Wiesen, immer auf der Hut vor den Nazis.

Kriegsende und Rückkehr nach St. Johann
In Deggendorf angekommen, versteckte ihn Franzi drei Monate lang auf dem Dachboden der Mutter, bis im Mai 1945 aus dem Radio die erlösende Nachricht zu hören war, dass der Krieg zu Ende war. Endlich konnte sich Hans wieder auf offener Straße bewegen! Das erste, was er tat: Er verbrannte seine Uniform und alles, was ihn an den Krieg erinnerte. Das war keine gute Idee, wie sich bald herausstellte. Hans wurde nämlich von den Besatzern aufgegriffen, die intensiv nach Mitgliedern der ehemaligen SS fahndeten. Mangels Uniform konnte er nicht beweisen, dass er nicht der SS angehört hatte, sondern einfacher Landser gewesen war. Mit dem Rad fuhr er deshalb die 200 Kilometer in die Heimat, um sich dort die entsprechende Bestätigung ausstellen zu lassen. Und wieder retour, versteht sich. Schließlich wollte er seine Braut heimholen auf das „große Gut“.
Das Paar reiste auf dem Fahrrad an. Als Franzi am Bauernhof eintraf, rutschte ihr wohl das Herz in die Hose. Es erwartete sie kein Leben als Gutsherrin, sondern jenes einer Bäuerin – und ein „Haufen Arbeit“. Das war absolut nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Hans und Franzi überlegten, nach Kanada auszuwandern. Vielleicht auch, um dem Kind, das Franzi unter dem Herzen trug, eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Die Eltern von Hans überredeten das junge Paar schließlich, zu bleiben und überschrieben ihm bald den Hof. 1946 wurde Monika geboren – in eine Welt voller Entbehrungen und harter Arbeit. Die Landwirtschaft warf zu wenig ab, um die ganze Familie zu ernähren, also mussten die Männer Geld dazuverdienen. Monikas Vater verdingte sich deshalb in den Nachkriegsjahren als Holzknecht in der Steiermark, bis Anfang der 50iger Jahre verbrachte er die Sommermonate von Mai bis Oktober getrennt von seiner Familie. Die Arbeit am Hof erledigte Franzi mit Hans (Altbauer) und Sepp, sowie Töchterchen Monika, das die Kühe hütete.

Von der Bäuerin zur Wirtin
Franzi blieb nichts anderes übrig, als die Rolle der Bäuerin zu übernehmen, doch glücklich machte es sie nicht. Sie war in der Stadt aufgewachsen, hatte von einem anderen Leben geträumt und war nicht für die Arbeit mit dem Vieh und auf dem Feld geschaffen. Auch wenn sie es sehr zu schätzen wusste, dass es auf dem Bauernhof immer genug zu essen gab. In München war es während der Kriegsjahre anders gewesen. Franzi erzählte ihrer Tochter später von Hunger und Not und von Bombennächten, in denen sich die Familie in Todesangst eng zusammengekuschelt hatte. Die Erlebnisse hatten Franzi stark gemacht. Und sie hatte gelernt, dass man sich bietende Gelegenheiten ergreifen muss. Als die ersten Sommerfrische-Gäste in St. Johann eintrafen, vermietete sie ihnen ihr Schlafzimmer und das ihrer Kinder (Sohn Helmut wurde 1951 geboren, Hansi 1961). „In der Saison håm mia im Wohnzimmer g’schlåf’n und aufsteh’n miass’n, bevor die Fremden kemma san“, erinnert sich Monika.
Als Hans seiner Franzi nach einer Saison als Holzarbeiter stolz das Sparbuch präsentierte mit der Summe, die er verdient hatte, legte ihm Franzi ihres vor – sie hatte mit der Vermietung der beiden Zimmer viermal so viel verdient. Franzi hatte ihre Bestimmung gefunden – sie wurde Gastgeberin und Wirtin. Schon bald wurde die Tenne ausgebaut, um mehr Räume vermieten zu können, 1956 wurde die Pension Neuner errichtet – St. Johanns erste Pension mit Fließwasser-Zimmern, die bereits 5 Jahre später veraltet waren, denn dann baute man Zimmer mit Dusche/WC. Hans blieb daheim und nahm eine Stelle im Sägewerk Klausner an. Die Pension wurde statt der Tenne an das Bauernhaus angebaut und umfasste im Erdgeschoß einige Einzelzimmer. Hier mieteten sich vor allem junge Schwedinnen, „fesche, alleinstehende Damen“ ein, die ihren Urlaub im Sommer oder auch Winter in St. Johann verbrachten – perfekt für die jungen einheimischen Männer, die beim Fensterln an Fassaden und über Balkone nicht Kopf und Kragen riskieren mussten, sondern bequem ebenerdig einsteigen konnten.
Auf der ehemaligen Kuhweide am Taxaweg entstand 1971 das Appartementhaus Central, das für Monikas Bruder Hansi gedacht war. Ende der 70er Jahre übernahm Monikas Bruder Helmut mit seiner Frau Inge die Pension Neuner. Als sie 1980 einen zweiten Stock anbauten, benannten sie die Pension um: Der St. Johanner Hof war geboren. Ein weiterer Umbau brachte viele, dringend benötigte neue Zimmer. Landauf landab war der St. Johanner Hof bekannt für sein gutes Essen und die fröhlichen Kutschenfahrten.

Monika wird Sekretärin – vorerst
Monika arbeitete schon als Kind mit und bewirtete die Gäste. Nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, zog es sie jedoch in die Fremde – sie wollte sich unbedingt weiterbilden. Mit 17 Jahren ging sie nach Baden-Baden in Deutschland, um dort die Sekretärinnenschule zu absolvieren – in Österreich gab es diesen Schultyp nicht. „I wollt’ unbedingt Sekretärin werden, weil i der Meinung wår, des is a Uschåffa-Beruf. Bis i draufkemma bin, dass der Chef uschåfft. Aber a guate Sekretärin richtet sich des scho’“, lacht Monika. Sie arbeitete später in München, wo sie ihren Mann kennenlernte, heiratete und ihre beiden Söhne Christian und Patrick bekam. Die Ehe stand unter keinem guten Stern, Monika wurde geschieden und kam 1978 zurück nach Hause. Mit nur einem Sohn, Patrick – Christian blieb beim Vater. Viele Jahre hatte Monika keine Möglichkeit, Kontakt mit ihrem Erstgeborenen zu halten – eine Situation, unter der sie enorm litt.
1981 ein weiterer schwerer Schicksalsschlag: Bruder Hansi verunglückte bei einem Verkehrsunfall tödlich – im Alter von nur 20 Jahren. Monika übernahm daraufhin das Hotel Central.

Schicksalsjahr
Dann kam 1996, „a grausiges Jåhr“, wie Monika sagt. Ihre Mutter Franzi, mit der Monika ein sehr enges Verhältnis gepflegt hatte, ihr Vater und auch Bruder Helmut (45 Jahre alt) verstarben innerhalb von nur zwei Monaten. Helmut und Mutter Franzi erlagen einem Krebsleiden, Vater Hans starb an einem Schlaganfall. Er hatte den frühen Tod seines Sohnes Hansi nie verkraftet. In jenem Jahr war Monika 50 Jahre alt und stand plötzlich ganz alleine da.
Da ihr Neffe Thomas noch zu jung für die Übernahme des Hotels war, kaufte Monika kurz entschlossen den St. Johanner Hof. „Dånn is die Arbeit erst richtig losgånga.“
Heute gehören der St. Johanner Hof und das Hotel Central Monikas Sohn Patrick (43). Er hat mit zwanzig Jahren bereits seine eigene Firma „Futureweb“ gegründet und für die Hotelbetriebe ein engagiertes Team gefunden, das die Betriebe im Sinne der Familie und unter seiner Aufsicht leitet. Christian ist heute 48 Jahre alt, inzwischen ist der Kontakt wieder hergestellt. Monika ist darüber sehr froh.
Das Jahr 2020 jedoch hat ihr bisher kein Glück gebracht: Ihr Lebensgefährte Gerhard verstarb heuer nach 31 gemeinsamen Jahren. Sie hatten sich einst über ein Heiratsinstitut in Salzburg kennengelernt, „es håt glei g’schnagglt“, erinnert sich Monika mit glänzenden Augen. Gerhard war Monikas große Liebe, er fehlt ihr sehr. Der „Tüftler“ und Erfinder war in manchen Bereichen ganz anders als sie selbst, doch bei den grundsätzlichen Ansichten waren sie einander gleich wie Zwillinge. „Er wår da ruhige, i de laute“, sagt sie. Ihre Stimme bricht.
Gerhards Tod hat in ihr alte Traumata wieder zum Leben erweckt, die Trennung von ihrem Sohn und die Todesfälle in der Familie in jenem schlimmen Jahr 1996. Sie wird sich diesen Themen jetzt stellen, mit Mut und Zuversicht. Denn Monika ist eine starke Frau, wie es schon ihre Mutter war. „Sie wår mei beste Freundin, a super Geschäftsfrau, selbstbewusst und stark. Sie wår mir a Vorbild.“

Das Leben geht weiter
Deshalb wird die St. Johannerin auch in Zukunft nicht daheim bleiben und ihr Schicksal beklagen, sondern sich unter die Leute mischen. „Lang und Klang“ am Mittwoch lässt sie selten aus, und wenn die Pensionisten irgendwann wieder Ausflüge und Reisen unternehmen, will Monika unbedingt mit dabei sein. Ihre beiden Maine-Coon-Katzen „Puppi“ und „Maxi“ müssen dann wohl einige Stunden ohne sie auskommen. Die großen, wunderschönen „Rasse-Miezen“ spenden ihr in diesen Tagen viel Trost.
Die Familie Neuner hat in den letzten 140 Jahren viele Höhen und Tiefen durchlebt, so wie viele andere auch. Doch die Geschichte, die Saga, sie ist noch nicht zu Ende. Wie es weitergeht, wird die Zukunft zeigen … 
Doris Martinz