„I håb’ Wikingerblut in mir!“, sagt Birgir Kreinig nicht ohne Stolz und erzählt aus seinem Leben zwischen Island und St. Johann.
Als sich der Steirer Karl Kreinig 1970 nach Island aufmacht, ist es der Tripp eines Abenteurers in ein wildes, unbekanntes Land. Inzwischen hat sich einiges geändert. Seit einigen Jahren ist der Inselstaat im hohen Norden zu einem Trend-Ziel für Europäer geworden mit entsprechend hohem Touristenaufkommen. „Die kemman jetzt an ihre Belastungsgrenzen“, sagt Birgir Kreinig, Optometrist in St. Johann. Der Mann mit dem für unsere Ohren seltsam klingenden Namen weiß, wovon er spricht: Er ist Isländer und lebte bis 2016 selbst in der Hauptstadt Reykjavik. Dabei schaut er wie ein waschechter Tiroler aus und redet auch so. Wie kommt’s?
Als Karl Kreinig, Birgirs Vater, damals nach Island reist, verliebt er sich nicht nur in die beeindruckenden Landschaften voller Mystik, sondern auch in eine Isländerin. Das Paar heiratet und bekommt einen Sohn, Birgir. Dem Optiker gefällt es auf der Insel, er will sich dort eine Zukunft aufbauen. Doch seine Frau Hrefna träumt davon, das Eiland zu verlassen und woanders ihr Glück zu finden – wie viele Inselbewohner. Also kommt Karl mit seiner Familie zurück nach Österreich, man lässt sich in Oberndorf nieder. Birgir ist damals sieben Jahre alt. Er vermisst zwar seine Großeltern und Freunde, doch er fühlt sich sofort wohl in der neuen Heimat und ist begeistert von den Jahreszeiten, von der Wärme, den Bergen, den neuen Freundschaften. Seine Mutter jedoch hat sich alles anders vorgestellt. Sie vermisst das Meer, die Weite, sie fühlt sich von den Bergen ringsum wie erdrückt, wie eingesperrt. Das Paar trennt sich, Hrefna nimmt Birgir nach nicht einmal zwei Jahren mit zurück nach Island, sein Papa und sein Bruder Philip bleiben in Oberndorf – eine belastende Situation für alle Beteiligten. Das Zurückkommen auf die Insel ist für Birgir noch schwieriger als das Fortgehen. Er vermisst nun Vater und Bruder, aber ihm fehlt auch Österreich mit seinem milderen Klima und der Sonne.
Hochsommertage bei zwanzig Grad
In Island ist die Sonne nämlich ein viel seltenerer Gast als bei uns, dort herrscht quasi für acht Monate im Jahr Winter, von Oktober bis Mai. An den kürzesten Tagen wird es erst um halb elf am Vormittag hell und schon um halb drei Uhr nachmittags wieder dunkel. Bei Schlechtwetter wird es den ganzen Tag lang überhaupt nicht richtig hell. Das ausbleibende Tageslicht und damit das Fehlen von Vitamin D macht sich bemerkbar: Viele IsländerInnen kämpfen in den Wintermonaten mit Depressionen. Dafür macht sie die Mitternachtssonne im Sommer umso glücklicher. Sobald die Temperaturen bei plus zehn Grad liegen und die Sonne scheint, tragen die Einheimischen T-Shirt und kurze Hosen. Nicht unbedingt, weil ihnen so warm ist, weiß Birgir aus eigener Erfahrung, sondern „weil sich die Sunn’ so guat anfühlt auf da Haut.“ Tage mit zwanzig Grad im Schatten sind Hochsommertage und werden entsprechend gefeiert. Doch auch, wenn es im Sommer für unsere Verhältnisse nicht sonderlich warm wird: Die Winter in Island sind dank des Golfstroms relativ mild, es herrschen selten Temperaturen unter minus fünf Grad. Sie können sich mit dem schneidenden Wind, der vom Meer kommt, jedoch anfühlen wie minus 20 …
Während die Menschen unter der Dunkelheit und Kälte stöhnen, stören sich andere Bewohner der Insel wohl nicht daran. Die Rede ist nicht von den Ponys, sondern von den Trollen, Kobolden und Feen, die auf dem Eiland überall zuhause sind. Der Großteil der InselbewohnerInnen glaubt an die Existenz dieser Naturwesen. Birgir auch? „Jå klår!“, meint er und lacht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen und frage noch einmal nach, aber Birgir meint das ernst und erzählt davon, dass seine Mutter einmal eine Wohnung gekauft habe, in deren Garten sich eine Feenkirche befunden habe. Ein Stein sei das gewesen, um den alle einen Bogen machten, um seine Bewohner nicht zu stören. Sobald man dem magischen Platz mit dem Rasenmäher zu nahe kam, stellte sich das Gerät aus. Birgir kennt viele solcher Geschichten. Aus Respekt vor den Naturwesen werden in Island mitunter neue Straßen um besondere Steine herum gebaut, oder es wird der Neubau eines Hauses umgeplant. Trolle, Feen und Co sind jedoch nicht immer nur nett, sondern durchaus auch für Schabernack zu haben. Wer in Island abends seine Brille aufs Nachtkästchen legt und sie dort am Morgen nicht mehr vorfindet, weiß, dass ein Troll am Werk war. Bei uns spricht man eher von Demenz oder Alzheimer. Die Isländer sind in dieser Hinsicht klar besser dran!
Und wenn es ums Meer geht, natürlich auch. Island ist bekannt für seine wild romantischen Küsten, schwarzes Lavagestein, heiße Quellen und Geysire, für seine mystischen Plätze und grandiosen Landschaften. Nicht umsonst boomt der Tourismus.
Birgir wächst als Isländer auf
Birgir gewöhnt sich damals wieder an die Insel und ihre Besonderheiten, er geht zur Schule und nimmt daneben schon in jungen Jahren immer wieder verschiedene Jobs an – bei der Post, in Supermärkten, bei der Autovermietung. Das ist in Island ganz normal: Kinder oder Jugendliche ab 14 Jahren können neben der Schulausbildung jobben und sich so ihr erstes eigenes Geld verdienen. Die meisten tun das auch und geben es gerne für Markenartikel aus. „In Island muass auf da Brille scho „Gucci“ oder „Prada“ steh’n“, weiß Birgir. Island ist hinsichtlich Lebensstandard und Pro-Kopf-Einkommen eines der führenden Länder der Welt – das kommt wohl nicht von ungefähr. Als Birgir 16 Jahre alt ist, will er in Österreich die Optiker-Lehre absolvieren, sein Vater darf ihn jedoch nicht anstellen – er muss einheimische Lehrlinge nehmen. Also bleibt sein Sohn in Island und geht dort weiter zur Schule. Er ist sehr sportlich, immer am Fußballplatz zu finden oder mit den Isländer-Ponys seines Großvaters auf der Insel unterwegs. Schule, Arbeit, Sport – das ist über viele Jahre seine Welt. Später nimmt er sogar an mehreren Triathlon- und einem Ironman-Wettbewerb teil. In den Ferien besucht er seinen Vater und seinen Bruder in Österreich, verbringt dort so viel Zeit wie nur irgend möglich. Bei einem seiner Besuche verliebt sich Birgir in eine Tirolerin und bleibt für mehr als drei Jahre in St. Johann. Da ihm die Optikerlehre noch immer verwehrt bleibt, jobbt er bei der Bergbahn oder arbeitet als Spengler, irgendwie kommt er schon über die Runden. Als die Beziehung endet, kehrt der heute 49-Jährige der Marktgemeinde jedoch den Rücken und geht zurück nach Island. Schließlich haben auch die isländischen Väter schöne Töchter. Birgir heiratet und bekommt mit seiner Frau zwei Söhne, Adam und Vigfús. Seine Frau ist es schließlich auch, die Birgir dazu ermuntert, endlich den Traum wahr zu machen und bei seinem Vater die Ausbildung zum Optiker zu absolvieren. Die Familie zieht nach Österreich, nach St. Johann, und diesmal gelingt es: Birgir schließt 2003 im Alter von 32 Jahren seine Lehre ab. Da seine Frau Heimweh hat, geht es dann aber wieder zurück in den hohen Norden, wo der frisch gebackene Optiker in verschiedensten Unternehmen Berufserfahrung sammelt. Leider geht auch diese Beziehung in die Brüche. Birgir trifft eine Entscheidung, die ihm sehr schwer fällt: Er packt seine Koffer und geht alleine zurück nach St. Johann. Seine beiden Söhne, damals 16 und 13 Jahre alt, lässt er schweren Herzens bei ihrer Mutter zurück. Er selbst hat in Island als Bub und Jugendlicher den Vater in Österreich schmerzlich vermisst, nun befinden sich seine Söhne in genau derselben Lage. Doch in unseren Tagen sind die Mittel und Möglichkeiten einfacher, in Kontakt zu bleiben: Über facebook messenger kommuniziert Birgir regelmäßig mit den „Jungs“, und für August hat er Flugtickets für die beiden besorgt. Hoffentlich ist das Reisen bis dahin wieder möglich …
Optiker aus Leidenschaft
Inzwischen ist Birgir wieder frisch verliebt, und zwar in die Westendorferin Sabina. Mit ihr war er schon zweimal in Island, um ihr die Insel zu zeigen und seine Buben zu besuchen. Die beiden waren schon öfter in St. Johann und lieben die Region. Sie fehlen Birgir sehr. Adam und Vigfús ganz in der Nähe zu haben, „då wär i scho sehr froh“, sagt er leise. Vielleicht entscheiden sie sich später, zum Vater zu kommen und hier zu bleiben? Alles ist möglich, Birgir hofft es sehr.
Bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, bleiben sie aber wohl noch auf der Insel. Und der St. Johanner, der noch immer ausschließlich einen isländischen Pass und keinen österreichischen besitzt, bleibt hier und ist glücklich mit seinem Beruf. Er ist Optiker aus Leidenschaft. Als Meister seines Fachs schätzt er die Vielfältigkeit: Der Beruf umfasst sowohl den Gesundheitsbereich (Sehstärken ermitteln, Linsen anpassen) als auch Handel und Verkauf und auch das Handwerk, denn in der Werkstatt schleift Kreinig die Gläser ja selber, auch Reparaturen werden vor Ort vorgenommen. Birgir arbeitet in St. Johann gemeinsam mit seinem Team, zu dem immer auch noch Papa Karl gehört. Philip, sein Bruder, ist Optiker und leitet die Zweigstelle in Kössen. Eine weitere Niederlassung betreibt Kreinig in Fieberbrunn.
Karl Kreinig hat noch einmal geheiratet und mit seiner zweiten Frau zwei weitere Buben bekommen, Daniel und Thomas. Daniel ist Optikermeister, er lebt und arbeitet in Wien, nur Thomas hat sich beruflich anderweitig orientiert und leitet heute die bekannte Gastronomie-Kette „Subway“. Von vier Buben sind also drei Optiker geworden wie der Vater – keine schlechte Quote. Das muss wohl auch so eine genetische Sache sein, aber darüber sprechen wir nicht weiter. Sondern darüber, dass Birgir daneben kürzlich eine zusätzliche Ausbildung als „Personal Trainer“ absolviert hat. Als dieser hilft er seinen KundInnen, persönliche Ziele, vor allem in sportlicher Hinsicht, zu erreichen. Als „Ironman“ weiß er ja, wie man den inneren Schweinehund bezwingt und sich motiviert.
Stark durch Lebertran
Birgir selbst hat sich damals auf den Bewerb noch in Island vorbereitet. Gestärkt von vielen Flaschen Lebertran, wie der Mann mit zwei Herzen in seiner Brust – einem österreichischen und einem isländischen – lachend erzählt. Das Öl der Wale, eine wertvolle Omega-3-Quelle, bekommt man auf der Insel in jedem Supermarkt zu kaufen, auch heute noch wächst fast jedes Kind damit auf. An den Geschmack gewöhnt man sich. Und was isst man sonst noch in Island? Viel Fisch, sowie Wal- und Schaffleisch, denn es gibt auf Island doppelt so viele Schafe wie Menschen. Als Kind hat Birgir noch Schafkopf gegessen – die Zunge, Backen, Ohren. Dieses traditionelle isländische Gericht verspeisen heute meist nur mehr die älteren Leute. Wie schmeckt eigentlich Walfleisch? „Ned guat!“, schießt es aus Birgir heraus. Ziemlich fest und fett sei es, dieses Fleisch, es zählt definitiv nicht zu seinen liebsten Gerichten.
Die Speisekarten in Island sind mittlerweile aufgrund der geografischen Lage der Insel zwischen den USA und Europa international geprägt. Dass viele Supermärkte rund um die Uhr und Einkaufszentren auch sonntags offen halten, ist dem amerikanischen Einfluss zuzuschreiben. Birgir vermisst das nicht in St. Johann. Woran er sich aber gerne erinnert, sind die Polarlichter, wie sie in kalten, klaren Nächten über den Himmel tanzen. Und an die Mitternachtssonne. Einmal fuhr Birgir ganz alleine an einen Strand und beobachtete dort gegen zwei Uhr morgens, wie die Sonne als flammend rote Kugel langsam im Meer versank, um sich nur eine Viertelstunde später fast an derselben Stelle wieder zu erheben. „Des wår fantastisch, unwirklich schön, unvergesslich!“
Die Mitternachtssonne erlebt Birgir in St. Johann nicht, dafür aber wunderschöne Bergwanderungen. Seine Mutter hat sich eingesperrt gefühlt, sie empfand die Berglandschaft als beklemmend. Für Birgir ist es nicht so, er fühlt sich wohl in St. Johann, auch im Tal. Aber oben am Gipfel, wenn er sich dem Wind entgegenstemmt und der Horizont unendlich weit vor ihm liegt, regt sich etwas in ihm, dann geht etwas auf. Dann fühlt es sich ein wenig an, als würde er aufs Meer hinaus schauen, mit leiser Sehnsucht in der Brust. Dann klopft sein Herz, und er spürt: Tief in ihm, da ruft ein Wickinger …