Ein Gespräch mit Sandra Tomic über Verlust, Traumata und Trost.

Sandra Tomic, heute 46 Jahre alt, stammt aus dem Raum Heilbronn in Deutschland. Im Juni 2020 macht sie – wie schön öfters zuvor – Urlaub in Söll, diesmal allein, ohne ihren Mann. Zufällig stößt sie in einer Wochenzeitung auf ein Stelleninserat: Man sucht in einem Ellmauer Unternehmen jemanden für Backoffice, Vertrieb und Social Media. Aus dem Bauch heraus beschließt sie, sich zu bewerben, einfach so. Noch während des Vorstellungsgesprächs unterschreibt sie den Vertrag, sie soll drei Wochen später ihre Arbeit aufnehmen. Zurück in der Unterkunft, wird ihr erst bewusst, dass sie drauf und dran ist, aus Deutschland „auszuwandern“ – und keine Wohnung hat, dort, wo sie in Zukunft arbeiten und leben wird.
Das klingt alles ein wenig verrückt. Manchmal ist das Leben einfach so: Die Dinge bleiben nicht an ihrem Platz, alles ist ver-rückt. Meist gibt es dafür einen Grund, so wie bei Sandra:
Ihre Eltern stammen aus Kroatien, sie wächst in Deutschland zweisprachig auf und macht ihren Kindheitstraum wahr: Sie wird Übersetzerin für Englisch, Französisch und Spanisch. Ihre Sprachkenntnisse setzt sie im Vertrieb eines Industrieunternehmens ein und ergänzt sie im Laufe der Jahre mit den Sprachen Italienisch, Bosnisch, Slowenisch, Polnisch und ein wenig Russisch. Sie macht sich selbständig, kehrt dann aber wieder als Angestellte in einen Betrieb zurück. Bis sie 2020 beschließt, nun doch endgültig in der Selbständigkeit ihr berufliches Glück zu suchen. Privat hat sie es mit ihrem Mann Ralf, ihrer große Liebe, schon gefunden.
Der 1. März 2020 ist der erste Tag ihrer Selbständigkeit, sie ist 42 Jahre alt und voll motiviert, alles läuft perfekt. Am vierten Tag stirbt Ralf. Völlig unerwartet; nachdem man ihn am Vortag mit Problemen am Herzen ins Krankenhaus eingeliefert hat; noch bevor man die geplante Katheteruntersuchung durchführen kann. Sandra hat ihn im Spital besucht, noch mit ihm gesprochen, danach zu Hause einige Sachen für ihn hergerichtet. Dann kommt der Anruf. Es heißt, er habe Kammerflimmern. Aufgrund eines Verkehrsstaus schafft sie es nicht rechtzeitig an sein Bett.
„Dann war er weg, einfach so“, sagt sie. „Und ich stand da, allein, am Anfang eines neuen Lebensabschnitts, mit gesperrten Konten.“ Sie wischt sich die Tränen aus den Augen.

Anders trauern

„Wenn wir auf eine Beerdigung mussten, stöhnte mein Mann immer, weil er sich etwas Schwarzes anziehen oder sich in einen Anzug zwängen sollte, darauf hatte er keinen Bock“, erzählt Sandra. Der Tag seines Begräbnisses ist der 13. März, Ralfs 51. Geburtstag. Sandra will keine klassische Trauerfeier für ihn ausrichten, „das war einfach nicht er“. Stattdessen wird es ein bunter Abschied mit Musik von „Metallica“ und anderen Bands, die Ralf mochte. Danach, allein daheim, tut sich ein tiefes Loch auf. Dass es aufgrund Corona einen Lockdown gibt, bekommt Sandra zuerst gar nicht mit, monatelang zieht sie sich zurück, bevor sie beginnt, hinaus in die Natur zu gehen. Und dann fährt sie in den Urlaub nach Söll, den sie damals noch gemeinsam mit Ralf gebucht hat – und nimmt einen Job in Österreich an. „Wir haben uns vor Jahren darüber unterhalten, vielleicht irgendwann einmal hierbleiben, spätestens in der Pension“, erzählt Sandra. Über die Vermittlung ihrer Vermieterin bekommt sie 2020 ganz kurzfristig eine Wohnung in Going. Als sie ihren Eltern mitteilt, dass sie Deutschland den Rücken kehren wird, „sind sie fast von der Couch gefallen.“
Manche Bekannte und Freunde finden es „cool“, dass sie die Heimat verlässt, andere sind entsetzt. „Wie kannst du nur, du hast doch deinen Mann am Friedhof liegen, nimmst du ihn etwa mit?“, fragt man sie. Sandra entgegnet, sie nehme ihn im Herzen mit. Auch die Tatsache, dass sie nicht immer schwarze Kleidung trägt, kommt bei manchen nicht gut an. Eine Nachbarin ist der Ansicht, sie habe auf jeden Fall das Trauerjahr einzuhalten, bevor sie wieder bunte T-Shirts trägt. Als sie beim Friseur sitzt und ein Foto von sich postet (es ist der erste Friseurbesuch nach Corona), mokiert sich ihre vermeintlich beste Freundin auf WhatsApp, wozu sie zum Friseur gehe, wenn sie doch niemanden mehr habe, für den sie sich hübsch machen müsse. „Da war ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig sprachlos.“

Neubeginn in der Region

Sandra bricht in Deutschland alle Zelte ab, Ende September ist die Übersiedlung abgeschlossen. Nach ein paar Monaten als Angestellte macht sie sich als „Sprachagentin“ wieder selbständig. Doch sie verspürt jetzt den Wunsch, noch etwas anderes zu machen. Mit der Art und Weise, wie sie ihre Trauer bewältigt hat, ist sie bei manchen Leuten angeeckt. Vielleicht gibt es aber mehr Menschen wie sie, die ihre Trauer ganz individuell ausleben wollen? Sie recherchiert im Internet und stößt auf viele Berichte, vor allem von Frauen, die anders trauern wollen – und sich nicht trauen, weil sie Angst vor der Kritik von Nachbarn, Kollegen oder der Familie haben. „Dabei ist es ganz egal, wie man trauert. Ob man sich für drei Jahre im stillen Kämmerchen einsperrt oder auf Weltreise geht: Hauptsache ist, dass man sich dem Prozess stellt und ihn durchläuft, dass man das Geschehene verarbeitet“, weiß Sandra. Schon früher hat sie eine Coaching-Ausbildung absolviert; ihre eigenen und die Erfahrungen, die sie dabei gewonnen hat, fließen in das Programm ein, das sie nun entwickelt. Sie nennt es „Anders trauern, glücklich trauern“ – eine Mischung aus klassischer Trauerbegleitung und neuen Ansätzen.
Im März dieses Jahres hat sie ihre Ausbildung zur Trauerbegleiterin und Lebens- und Sozialberaterin abgeschlossen, sie sieht in diesem Bereich ihre berufliche Zukunft. Sie will Trauerbegleitung nicht nur für Angehörige anbieten, sondern auch für Firmen. „Ich habe das bei meinem Mann gesehen. Seine Kollegen waren total geschockt, weil er auf einmal nicht mehr da war. Sie hatten so viel Zeit mit ihm verbracht, und doch kümmerte sich niemand um sie.“ Sandra, sie lebt inzwischen in Brixen im Thale, will das ändern und Teams in Firmen „auffangen“, wenn ein Kollege oder eine Kollegin unerwartet verstirbt. Sie steht der Kollegenschaft auch zur Seite, wenn jemand aus dem Team einen Angehörigen verliert und man nicht weiß, wie man am besten mit der Situa­tion umgeht. Sie hat heuer übrigens das „Weltraum“-Stipendium gewonnen und kann nun den Cowork-Space in St. Johann ein Jahr lang nutzen.

Vom Traumata zum Trost

Der Umzug nach Österreich, der neue Aufgabenbereich: Das alles wäre nicht passiert, wenn Ralf noch am Leben wäre. Das Thema Trauer war für Sandra früher weit weg und tabu. Erst als sie selbst mit dem Verlust ihres Liebsten konfrontiert wurde, begann sie, sich damit auseinanderzusetzen und dem Thema in der Ausbildung zur Trauerbegleiterin auf den Grund zu gehen. Sie erkannte ihre eigenen Traumata: Dass sie es nicht rechtzeitig ans Sterbebett ihres Mannes geschafft hatte, war für sie lange Zeit ein schwieriges Thema gewesen. Sie hörte auf, Uhren zu tragen – wozu die Stunde bestimmen, wenn trotzdem immer etwas passieren kann? Heute weiß sie, warum ihr Mann ohne sie starb, warum sie im Stau stecken blieb und um zehn Minuten zu spät kam, sie, die doch immer und überall pünktlich auftaucht: „Er wollte allein gehen, weil ich nicht hätte loslassen können“, sagt sie. „Aber ich habe ihn noch gesehen, er hatte ein wunderbar entspanntes Lächeln auf den Lippen, das hat mich getröstet.“
Wenn Sandra heute vor schwierigen Entscheidungen steht, bittet sie ihren Mann, ihr ein Zeichen zu geben. Sie schaltet das Radio ein – je nachdem, was gerade gespielt wird, ist die Antwort ein Ja oder Nein. „Wenn es ein Ja ist, kann ich darauf wetten, dass auf Ö3 plötzlich Metallica kommt, was überaus selten der Fall ist. Dann passt das.“ Bei einem Nein komme kein Metallica und meistens sogar ein Song, in dem ein Nein vorkommt. „Das ist spooky, aber es funktioniert zu 99 Prozent.“
Sandra weiß, dass ihr Mann da ist und auf sie schaut. Nun will sie für andere Menschen da sein und ihnen beistehen, wenn sie Abschied nehmen müssen von ihren Liebsten.

Doris Martinz

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Sandra Tomic
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