Boxer, Feuerwehrkommandant, Sammler und noch mehr: All das vereint Ernst Stöckl in einer Person.

Im Juni 2024 feiert Ernst Stöckl seinen 70. Geburtstag. Er wurde 1954 in St. Johann geboren; sein Großvater und seine Tanten führten ein Lebensmittelgeschäft im Ort, das er 1984 übernahm. Ursprünglich wollte er Boxer werden, doch dieser Traum zerschlug sich im wahrsten Sinne des Wortes. Er strebte dann doch nach einem sicheren Einkommen. Und außerdem lernte er seine Heidi kennen. Aber der Reihe nach:
Als Ernst ein Knirps war, hatten viele Buben ein großes Idol: den Weltklasse-Boxer im Schwergewicht, Cassius Clay. Als Ernst die Hauptschule besuchte, rotteten er und seine Kameraden sich zusammen, suchten sich im Wald eine ebene Fläche, die von vier Bäumen umstanden war und holten vom Müllplatz alte Motorrad- und Fahrradschläuche, aus denen sie einen Boxring bastelten. Ganze Schulklassen pilgerten für die Kämpfe an den Ort des Geschehens. „Ich habe immer gewonnen und bald keine Konkurrenten mehr gehabt“, erinnert sich Ernst. Als er in die Handelsschule in Schwaz wechselte, konnte er im Boxclub des Ortes endlich in einem echten Ring trainieren. Als sich der Club auflöste, trat er dem Boxclub BC Steinadler in Brixlegg bei. Nicht nur im Ring gab er stets sein Bestes: „Ich habe fast Tag und Nacht trainiert, ich bin viel gelaufen und war austrainiert bis zum Letzten.“ So nahm sich der St. Johanner im Alter von 22 Jahren vor, unter allen Umständen die Staatsmeisterschaft zu gewinnen. Im Semifinale brach er sich zwar den Daumen, doch das konnte ihn nicht bremsen. Er ließ ihn so fest bandagieren, dass der prüfende Ringrichter die Verletzung nicht feststellen konnte. Die Schmerzen waren beim Kampf fast unerträglich, doch der Kopf war stärker: Ernst Stöckl wurde 1976 Staatsmeister im Schwergewicht. Und beendete daraufhin seine sportliche Karriere. Weil er genug hatte von all dem Training. Weil er wusste, dass er es auf internationaler Ebene im Boxring sehr schwer haben würde. Weil Heidi, seine junge Liebe, ihm das Boxen nicht verbot, aber auch keine Freude damit hatte.

Jede Menge Schuhbänder

Ernst hatte Heidi immer beobachtet, wie sie – mit Paketen auf dem Arm – am Geschäft vorbei in Richtung Post ging. Lange Beine, lange Haare – sie gefiel ihm auf Anhieb. Er fand heraus, dass sie im Schuhhaus Haselmaier arbeitete, dort tauchte er in der Folge immer wieder auf. Aber Schuhe konnte er natürlich nicht jedes Mal kaufen, das sprengte sein Budget. Deshalb fragte er nach Schuhbändern. Immer und immer wieder. „Kein Mensch braucht so viele Schuhbänder, das fiel mir schon auf“, erinnert sich Heidi, die unser Gespräch verfolgt und einiges beizutragen hat. „Aber dass er meinetwegen kommt, auf diese Idee kam ich nicht.“ Als Ernst ihre Kollegin zum Ball einlud, geschah dies unter der Auflage, dass sie Heidi mitbrachte. Der Rest ist eine Liebesgeschichte, die bis heute andauert. Seit 44 Jahren sind Heidi und Ernst verheiratet, ihre Töchter Nina und Christina, Zwillinge, sind inzwischen 39 Jahre alt. Ihre Eltern sind sehr stolz auf sie. Nina ist Polizistin*, Christina Lehrerin an der Mittelschule in Fieberbrunn.
„Uns geht es gut miteinander“, sagt Heidi. „Wir sind seit 48 Jahren den ganzen Tag beisammen, und haben trotzdem jede Menge Gesprächsstoff.“ Ernst lächelt und nickt. Am Tag nach bewusstem Ball machten die beiden übrigens einen Ausflug nach München. Dort sahen sie beim Eingang eines Hotels ganz zufällig Cassius Clay. Ernst stürmte hin, um sich ein Autogramm zu holen. „Ein unvergesslicher Tag“, sagt er. „Seit damals steht Heidi wie ein Fels in der Brandung hinter mir, dafür bin ich sehr dankbar“, sagt Ernst mit einem liebevollen Blick auf seine Frau. Er schenkt seiner Frau jede Woche einen Blumenstrauß – seit 1980.
Ich hatte angenommen, Ernst habe seit seiner Kindheit immer in St. Johann gelebt. Aber so war es nicht: Da sein Vater das Geschäft der Eltern, also von Ernsts Großeltern, nicht erbte, zog die Familie nach Kramsach und später nach Kirchberg. Weil seine Onkel und Tanten aber keine Erben hatten, kam Ernst zum Zug und übernahm das Geschäft, in dem er quasi aufgewachsen war und machte daraus einen Gemischtwarenhandel.

Feuerwehr und Sammlungen

27 Jahre lang war Ernst Stöckl Kommandant der Feuerwehr St. Johann. Im Alter von 65 Jahren legte er das Amt nieder, wie es das Gesetz verlangt. Der Abschied habe lange geschmerzt, sagt er, er habe seine Funktion mit Leib und Seele erfüllt. Er habe viel Belastendes erlebt, in all den Jahren wohl einhundert Tote geborgen. Viele sind ihm noch in Erinnerung. Aber den Moment, in dem er einen kleinen Buben, der bei einem Bahnunfall ums Leben gekommen war, in seinen Armen vom Ort des Geschehens wegtrug, der ist so präsent, als wäre es gestern passiert. Wie verarbeitet man solche Erlebnisse? „Mit der Zeit halt, Hilfe habe ich dabei nie gebraucht, das haben wir alle nicht“, sagt Ernst.
Er konzentriere sich jetzt auf seine Sammlungen, sagt er. Er sammelt vieles, von der Ansichtskarte bis zum Gemälde, „außer Damenslips alles“, sagt er und lacht, Heidi stimmt mit ein. Viele seiner Sammelstücke werden immer wieder ausgestellt – im „Zeughaus“ beispielsweise oder im „Ferdinandeum“. Vor einiger Zeit wurde auch eines seiner alten Werbeschilder im Wien Museum gezeigt. Im Herbst wird er wieder Reklameartikel für die Radioausstellung im Zeughaus Innsbruck zur Verfügung stellen.
Ernst sammelt auch „Militaria“ aus den beiden Weltkriegen und aus dem Dritten Reich. Wer solche Dinge verwahrt, muss Auflagen erfüllen, Referenzen abliefern. Ernst nimmt das in Kauf, er will die Artefakte besitzen. Weil sie Geschichten erzählen, weil sie Zeitbilder sind. Er sammelt auch Sterbebildchen und hat so ziemlich von jedem Verstorbenen/jeder Verstorbenen in St. Johann bis zirka 1850 zurück das Andenkenbildchen verwahrt. Und tausende Ansichtskarten sind ebenfalls sein Eigen. Er lagert alles im Keller, im oberen Geschoß der Wohnung und manches auch im Geschäft. „Aber die Wohnung, die ist sammelfreie Zone“, sagt Heidi mit Nachdruck. Seine Sammelstücke erwirbt Ernst durch persönliche Kontakte oder auf Auktionen. „Das Internet interessiert mich nicht!“
Was soll mit all den Dingen, darunter viele Unikate, passieren, wenn Ernst einmal nicht mehr ist? „Das fragen sich unsere Mädchen auch“, sagt Heidi. Ernst zuckt mit den Schultern.

Was wirklich zählt

Heidi half Ernst im Geschäft, sobald die beiden ein Paar waren. Seit fünf Jahren könnte sie in Pension sein, Ernst ebenso. Dennoch stehen die beiden noch täglich im Laden. „Unsere Diandln sagen immer, wir sollen endlich zusperren und in Pension gehen. Aber wir haben immer noch Freude an der Arbeit, an den Gesprächen mit unserer Kundschaft, an der Ware“, sagt Heidi. Seit fast hundert Jahren ist das Geschäft in Familienhand, eine Nachfolge ist nicht in Sicht. „Irgendwann hört es dann auf, das kann morgen sein oder in fünf Jahren, wir wissen es nicht“, so Ernst. Es könne sich ohnehin von einem Moment auf den anderen alles ändern, das zeigte sich im Jahr 2017. Damals entdeckte man bei Heidi einen Gehirntumor. Er war zum Glück gutartig, alles ging gut aus. Was blieb, ist noch mehr Dankbarkeit für das Positive im Leben: dass es den beiden Töchtern gut geht, dass sie selbst und Ernst gesund sind.
Und jetzt feiert er seinen 70er. Wenn er zurückblickt auf sein Leben: Würde Ernst heute einiges anders machen? Er überlegt und sagt dann: „Ich möchte nichts missen von dem, was ich erlebt habe. Aber ich würde in manches nicht mehr so viel Energie investieren und mir mehr Zeit für die Familie nehmen.“ Sein jahrzehntelanger Einsatz für die Feuerwehr habe die Familie schon belastet, gesteht er. Heidi erzählt davon, wie oft sie und die Kinder sich am Sonntag für einen Ausflug angezogen und bereitgemacht hätten  – und dann schlug der Piepser an. Bis zum Schluss setzte Ernst übrigens auf Piepser und Sirene, ein Handy kam und kommt nicht in Frage.
Er habe sein Leben nie geplant, alles habe sich ergeben, sagt er. Auch mit 70 ist er noch topfit, er und Heidi fühlen sich nach wie vor sehr vital und jung geblieben. „Am Tag meines runden Geburtstags im Juni werde ich dann aber wahrscheinlich schon über mein Alter nachdenken“, sinniert Ernst. Bis jetzt habe er das kaum. Außer an seinem 30. Geburtstag. Da habe er einen „Moralischen“ bekommen und sei mit hängendem Kopf hinterm Haus gesessen. Der Grund dafür: Kurz zuvor war sein Vater mit nur 49 Jahren gestorben.
Doch das Leben ging weiter, und es brachte dem Jubilar noch viel Gutes und Schönes. Unter anderem viele Freunde und Bekannte – es sind unzählige, sie sind überall. Man kennt Ernst noch vom Boxen, von der Feuerwehr, vom Geschäft. „Alle mögen ihn, weil er sich schon immer sehr für andere eingesetzt hat“, sagt Heidi. „Weil du eine Seele von Mensch bist“, fügt sie an ihren Mann gewandt hinzu und drückt kurz seine Hand.
Man kennt nicht nur Ernst, man kennt auch sein Auto, und zwar am Kennzeichen: KB HABT8 – ein „Relikt“ aus seiner Zeit als Feuerwehrkommandant. Es auszutauschen, kommt nicht in Frage. Wäre es möglich, würde Ernst es wahrscheinlich in seine Sammlung aufnehmen. Wie all die Dinge im Keller. Und wie die Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten.

Doris Martinz

*Über Nina und ihre Karriere bei der Polizei haben wir 2021 in unserer Ausgabe Nr. 7 berichtet.