Renate Magerle über Tatsachen, die sie – fast – verzweifeln lassen, über fehlenden politischen Willen und ungebrochenen Mut.
Im Zuge der Initiative „Orange the World“, 16 Tage gegen Gewalt an Frauen, erstrahlen noch bis 10. Dezember auf der ganzen Welt Gebäude in Orange – auch in der Region, auch in St. Johann in Tirol. Seit vielen Jahren trägt hier das Frauen- und Mädchenberatungszentrum die Aktion mit. Ihre Notwendigkeit steht außer Frage: Noch nie gab es in Österreich so viele Gewalttaten gegen Frauen wie heuer, noch nie so viele weibliche Mordopfer – 26 sind es bis Drucklegung. Meist kommen die Täter aus dem familiären Umfeld. Die Regierung hat reagiert, das Budget für Gewaltschutz und Prävention wurde aufgestockt auf 24,5 Millionen Euro. Die Mittel werden fast ausschließlich für die Prävention eingesetzt, ein stattlicher Teil ist einer Kampagne zur Änderung des Männerbilds gewidmet. Eine Erhöhung der Gelder, um betroffenen Frauen besser zu helfen, ist nicht vorgesehen. Eine Tatsache, die Renate Magerle, Obfrau des Beratungszentrums in St. Johann, fast an den Rand der Verzweiflung bringt. Seit Jahren kennt man sie als Kämpferin für Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden. Seit Jahren renne sie gegen Gummiwände, sagt sie. „Prävention ist gut und richtig. Aber wie kann es sein, dass man die betroffenen Frauen völlig ignoriert?“
Das Geld ist knapp
Die Finanzierung des Frauen- und Mädchenberatungszentrums in St. Johann bereitet Magerle seit dessen Bestehen Kopfzerbrechen – und Herzbeschwerden, wie sie gesteht. Laut der Istanbul-Konvention, die vor Jahren auch in Österreich ratifiziert wurde, muss der Bund pro Zehntausend Einwohner ein Bett für Frauen zur Verfügung stellen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden. Das Beratungszentrum in St. Johann stellt diese Betten (insgesamt acht, sie sind immer belegt) zur Verfügung und erhält vom Bund dafür 5.000 Euro pro Jahr. Eine lächerliche Summe, mit der die Leistungen des Zentrums nicht einmal annähernd abgegolten werden können. Magerle wendet sich deshalb jedes Jahr im Herbst an die umliegenden Gemeinden mit der Bitte, pro Einwohner einen Euro für die Einrichtung zum Schutz für Frauen, die Gewalt erfahren, zu investieren. Dann wäre das Beratungszentrum finanziert. Für die Gemeinden ist das theoretisch leicht machbar, der Euro tut nicht wirklich weh, Magerle verlangt ja nichts Unmögliches. St. Johann als Standortgemeinde leistet den Beitrag beispielhaft und gerne, viele andere Gemeinden speisen Magerle aber mit minimalen Beträgen ab, die an Provokation grenzen. So ist die Einrichtung bis zum heutigen Tag auf private Spenden und Sponsoring durch Firmen angewiesen.
Es gäbe im ganzen Bezirk keine Anlaufstelle für Frauen, die Gewalt erfahren, wenn nicht die „private Hand“ einspringen würde. Und das in einem zivilisierten Land, das – wie aktuell zu beobachten ist – offensichtlich über Unmengen von Geldern verfügt. Frauen, die Hilfe und Beratung brauchen, bekommen kaum etwas davon. Dabei wären die benötigten Beträge vergleichsweise „Peanuts“. Warum ist das so?
Woran es scheitert
„Es fehlt der politische Wille“, weiß Magerle. Sie hat in den letzten Jahren alle zuständigen Institutionen und Einrichtungen kontaktiert, alle BearbeiterInnen und EntscheiderInnen angesprochen, bis hinauf in die höchsten Ebenen. Sie kennt viele von ihnen persönlich, hat einen guten Draht, hat viele Versprechungen, Statements und Zusagen bekommen. Geld fließt aber keines. „Weil das Thema Gewalt an Frauen keines ist, mit dem sich ein Politiker oder eine Politikerin profilieren kann“, meint Cornelia Maurer-Embacher, Pädagogin und Juristin, eine Mitstreiterin von Renate Magerle im Beratungszentrum. Dabei ist es eines, das volkswirtschaftlich gesehen sehr wohl eine Rolle spielt: Gewalt gegen Frauen kostet in Österreich jährlich sechs Milliarden (!!) Euro – auf diese Summe kam das European Institute for Gender Equality (EIGE) für eine aktuelle Studie. Eingerechnet werden auch Folgekosten wie Gerichtsverfahren, dazu Sozialleistungen, Kosten von Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit, die sich aus psychischen und physischen Folgen ergeben. Die zehn Millionen, die bisher für Prävention und Gewaltschutz ausgegeben wurden, sind mickrig dagegen. Die aufgestockten 24,5 Millionen auch.
Kein Feminismus
Gewalt an Frauen ist kein Thema, das Politiker lieben. Wenn Frauen mit blauen Flecken am ganzen Körper oder Schwellungen im Gesicht zur Beratungsstelle in St. Johann kommen, ist das auch wirklich nicht sexy. Es ist einfach nur tragisch und sollte in jedem von uns Mitgefühl und den Impuls des Helfen-Wollens auslösen. Das hat auch nichts mit Feminismus zu tun. Es ist nun einmal so, dass Frauen in körperlicher Hinsicht Männern meist unterlegen sind. Und dass es Männer gibt, die ihre Überlegenheit bewusst ausspielen. Es gibt umgekehrt auch Männer, die von ihren Frauen misshandelt werden. Es sind ihrer wenige, aber es gibt sie. Auch sie sollen und müssen Hilfe bekommen. Aber meist sind es nun einmal die Frauen, die Hilfe brauchen. Und zwar nicht erst, wenn sie mit blauen Flecken vor der Tür des Beratungszentrums stehen. Die Spirale der Gewalt beginne schon viel früher, sich zu drehen, so Magerle. „Es geht auch um das Bewusstsein, wo Gewalt beginnt“, sagt Maurer-Embacher. Die beiden Frauen sind sich einig darüber, dass Aufklärung und Prävention schon im Kindergarten beginnen sollten. „Wenn Buben und Mädchen über Jahre immer wieder mit dem Thema konfrontiert werden, bleibt etwas hängen“, ist sich Maurer-Embacher sicher.
Was es auf jeden Fall braucht, ist ein niederschwelliger Zugang zu Einrichtungen, in denen Frauen Hilfe und Beratung erfahren. Misshandlung und sogar Morde könnten vermieden werden, wenn Frauen entsprechende Anlaufstellen haben und Personen, denen sie vertrauen können, die ihre Anliegen ernst nehmen. Auch in unserer Region kam es ja schon zum Äußersten – die unfassbare Tragödie in Kitzbühel im Jahr 2019 ist unvergessen.
Aber auch, wenn es längst nicht so weit kommt, ist Hilfe notwendig. Lokalpolitiker sehen das manchmal anders. „Wir brauchen das bei uns nicht. Die Frauen sollen sich halt ordentlich aufführen!“, musste sich Magerle schon einmal anhören. Ihre blauen Augen blitzen vor Wut, als sie davon erzählt. Interessant übrigens auch die Stellung der Kirche in der Region zu diesem Thema: Als man einen Pfarrer fragte, ob man für die Aktion das Kirchengebäude orangefarben beleuchten dürfe, meinte jener: „Nein, das braucht es nicht. Der Herrgott wird’s schon richten.“ Na, hoffentlich nimmt er sich bald Zeit dafür – oder redet ein ernstes Wort mit seinem „Bodenpersonal“.
Schwierige Fälle
Seit 1. September müssen Gewalttäter, die vom gemeinsamen Zuhause weggewiesen werden, verpflichtend eine Männerberatung in Anspruch nehmen. Als Anlaufstelle wird Betroffenen in Tirol der Psychosoziale Pflegedienst in Innsbruck genannt, der dafür erst Kapazitäten schaffen muss. „Dabei gibt es ja den Verein Mannsbilder, der in dieser Hinsicht ausgezeichnete Arbeit leistet“, erregt sich Magerle. „Warum kann man nicht bestehende Ressourcen nutzen und das Geld, das man sich dabei spart, den Opfern zukommen lassen? Das geht mir bis hierher!“, sagt sie wütend und deutet an ihr Kinn. Es sind Strukturen, die Magerle langsam mürbe machen. „Aber ich gebe nicht auf, ich gebe nicht auf“, wiederholt sie fast schon Mantra-mäßig. Und dann packt sie wieder der Zorn – Magerle erzählt von einem Fall, der sich unlängst in St. Johann ereignete: Eine Frau kam an einem Sonntagnachmittag zur Polizeiinspektion – sie war offensichtlich Opfer von häuslicher Gewalt geworden. Man nahm das Protokoll auf. Und dann? Dann war man auf der Inspektion ratlos. Man hätte die Frau zwar im Frauenhaus in Innsbruck aufgenommen – nur, wie sollte sie dahin kommen? Sie hatte ja kein Geld bei sich, war von zuhause geflüchtet. Den BeamtInnen der Inspektion waren die Hände gebunden: Die Polizei darf zwar Straftäter nach Innsbruck in die Strafvollzugsanstalt überstellen, aber kein Gewaltopfer ins Frauenhaus bringen. Krankenhaus? War auch keine Option. „Zum Glück hat die Polizistin jemanden aus unserem Team erreicht“, erzählt Magerle. „Aber was, wenn dem nicht so gewesen wäre? Wir können mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, nicht auch noch einen Bereitschaftsdienst einrichten.“ Eigentlich ist es ganz unglaublich, dass in einem Land wie Österreich am Wochenende keine Hilfe für schutzsuchende Frauen gibt, finde ich.
Als Magerle kürzlich in Südtirol für ihren Einsatz das Verdienstkreuz des Landes Tirol erhielt und auf der Bühne zwischen dem Nordtiroler und Südtiroler Landeshauptmann für ein Foto posierte, flüsterte sie Günther Platter zu, dass sie bei seinem Fahrer einen Brief von ihr deponiert habe. Daraufhin wendete sich Günther Platter hinter ihrem Rücken an Arno Kompatscher und raunte ihm zu: „Die Renate ist eine, die nie aufgibt!“ Und genauso ist es. Zum Glück.
Doris Martinz