Die neuen Medien seien über die Menschheit hereingebrochen, so drückt es Dr. Armin Dag aus. Über Risiken und Chancen …

Eltern kennen Bilder wie diese: Man redet mit seinem Sohn, doch der scheint nichts zu hören und tippt nur auf seinem Handy herum. Man schaut gemeinsam einen Film, die Tochter chattet nebenbei am Handy. Die Familie sitzt am Esstisch, eines der Kinder macht komische Gesichter und schielt immer wieder verstohlen unter den Tisch – für ein Snapchat-Foto. Die meisten Kinder und Jugendlichen wollen ihr Smartphone nicht mehr aus der Hand geben, viele können es gar nicht mehr. Die Sucht nach Handy, Tablet, Xbox & Co hat die Jugend fest im Griff. Ab wann spricht man denn eigentlich von einem Suchtverhalten, zum Beispiel beim „Gaming“, beim Spielen mit den Konsolen? „Das ist nicht so leicht zu definieren“, räumt Dr. Armin Dag ein. Er ist Psychologe und Psychotherapeut und als solcher bei der Suchthilfe Tirol in St. Johann tätig. Alarmzeichen seien, wenn das „normale“ Leben der Kinder oder Jugendlichen stark beeinträchtigt ist, wenn die Schule vernachlässigt wird, wenn die Leistungen sinken, weil das Kind überlastet ist. Welche Dimensionen gerade die Gaming-Sucht annehmen kann, schildert er an einem Beispiel: „Ein Kollege erzählte mir von einem Fall, bei dem ein Jugendlicher sich unter dem Tisch einen Eimer herrichtete, um nicht auf die Toilette gehen zu müssen.“ Ausgeklügelte Programme und Belohnungssysteme binden die SpielerInnen ans Gerät. Wer nur ein paar Minuten weg ist, verliert wertvolle Punkte oder erleidet andere Nachteile. Manche Jugendliche verlassen ihr Zimmer wochenlang nicht, essen und schlafen kaum, um den Anschluss im Spiel nicht zu verlieren. „Es gibt Berichte, wonach manche im Schlaf sogar die typischen Bewegungen mit den Daumen machen“, weiß Dr. Dag. Gesund ist das freilich alles nicht.
„Das Gehirn wird beim stundenlangen Spielen zugemüllt“, benennt Dr. Dag das Problem. Die Reizflut überfordere den Geist, es komme zu Konzentrationsstörungen bis hin zur Überlastungsdepression, besser bekannt als „Burnout“, und in manchen Fällen zum völligen Zusammenbruch. Nicht nur das Spielen mit den Konsolen, auch die exzessive Nutzung des Handys oder des Tablets/Computers könne schwerwiegende Auswirkungen haben. Während Buben eher zum Gaming neigen, entwickeln Mädchen Abhängigkeiten vom Handy und Apps wie Snapchat und Tik Tok. Auch Selfies können zur Sucht werden. Als „Kollateralschäden“ bezeichnet Dr. Dag die Tatsache, dass die Beschäftigung mit Handy & Co oft zu Bewegungsmangel bei den Kindern und Jugendlichen führt. Wie soll man sie auch ins Freie locken oder zum Sport animieren, wenn das „Kastl“ so viel Spannendes liefert? Auch ungesunde Ernährung geht mit dem „Zocken“ oft einher.

Familien leiden

Die Abhängigkeit von Smartphone oder Konsole wird auch in der Beratungsstelle in St. Johann zunehmend zum Thema. Denn die Familien leiden. Mitunter zerrüttet das Streitthema „Handy“ oder „Xbox“ die ganze Familie, die ständigen Diskussionen nerven und belasten das Klima.
Corona hat die Situation noch verschlechtert, weiß Dr. Dag. Wenn die ganze Familie aufgrund von Quarantäne oder Lockdown daheim bleiben muss, wird es schwierig, den Kindern Konsolen oder das Handy zu verbieten. „Manchmal strecken die Eltern auch die Waffen und haben keine Kraft mehr, sich den Kindern entgegenzustellen, das ist verständlich.“
Wie kann man als Elternteil überhaupt den ungesunden Handy- oder Konsolenkonsum der Kids reduzieren? „Kindern muss man den Zugang limitieren“, rät der Psychologe. Ganz wichtig sei es, das Gerät am Abend vor dem Schlafengehen „einzukassieren“, sonst spielen oder chatten Kinder möglicherweise auch in der Nacht. Aber auch untertags sollte die Zeit limitiert sein. Für das Handy gibt es Apps, die die Nutzung zeitlich beschränken. „Die funktionieren ganz gut“, weiß Dr. Dag aus seiner Erfahrung.
Eine drastische Maßnahme ist es, den Internetzugang zu kappen – kein Internet, kein Gaming. Ohne WLAN ist auch am Handy irgendwann nicht mehr viel zu machen. Das bedeutet jedoch für die ganze Familie Verzicht auf Google, E-Mail, Streamingdienste & Co – in Zeiten von Home-Schooling und Home-Office vielfach ein Ding der Unmöglichkeit. Und doch der einzige Weg, süchtige Kinder und Jugendliche zu entwöhnen. Gerade bei den Letzteren hat man sonst kaum eine Chance, etwas zu bewirken. Hier könne man nur auf das Gespräch setzen, so Dr. Dag. Schimpfen, Schreien, Drohen jedoch seien oft kontraproduktiv. „Man sollte ganz vernünftig mit dem oder der Jugendlichen reden, ein Gespräch auf Erwachsenenbasis führen. Er oder sie muss selber die Erfahrung machen, dass das ewige Spielen oder Chatten nicht gut für ihn/sie ist.“ Wichtig: Man muss selber ein gutes Beispiel sein. Wer selbst den ganzen Tag lang am Handy klebt, genießt wenig Glaubwürdigkeit.

Immer wieder abschalten

Damit sind wir bei einem Thema, das uns alle angeht. Bis zu einem gewissen Grad sind nämlich die meisten von uns vom Smartphone abhängig. Dr. Armin Dag nimmt sich selber nicht aus: „Ich habe gemerkt, wie seltsam es sich anfühlt, wenn man das Handy einmal ganz ausschaltet.“ Mit diesen Empfindungen ist er nicht alleine: „99 Prozent der Leute erleiden ein Verlustgefühl, wenn sie das Handy abschalten, so, als würde man ihnen ein Stück des eigenen Körpers abschneiden.“ Gerade deshalb empfiehlt Dr. Dag, immer wieder einmal „offline“ zu gehen. Auch dann, wenn man nicht der Meinung ist, man sei süchtig. „Die Angst, irgendwie zurückzubleiben und den Anschluss zu versäumen, ist eine menschliche Schwäche. Wenn man immer wieder die Erfahrung macht, dass man nichts versäumt hat, gibt das Sicherheit.“ So begann das ja mit den Kindern: Sie bekamen „zur Sicherheit“ ein Handy mit in die Schule, damit man sie unter Kontrolle hat. „Jetzt hat das Handy die Kinder unter Kontrolle!“

Wir müssen den Umgang lernen

In Wirklichkeit gebe es keine idealen Lösungen, so Dr. Dag. Die Menschheit sei überfallen worden von der Technik, und wir sind nun die erste Generation, die mit ihr klarkommen muss. Betroffen sind vor allem unsere Kinder, sie sind quasi die Versuchskaninchen. Man wird sich etwas einfallen lassen müssen, vielleicht technische Hilfsmittel, die die Kinder und uns alle vor einem Zuviel an Nutzung, vor der Sucht, schützen. Dabei ist mit Gegenwind zu rechnen. „Der ganze Bereich ist natürlich ein riesiges Geschäftsmodell, an Restriktionen wird die Industrie kein Interesse haben“, zeigt Dr. Dag die Problematik auf. Doch ganz kampflos werde die Menschheit nicht aufgeben, da ist er ganz zuversichtlich. Wir werden den verantwortungsvollen Umgang mit Smartphone, Tablet und Konsole lernen müssen – denn sie werden bleiben. Weil auf die Benefits, die sie bringen, niemand verzichten will.

Wenn es in der Familie das Problem der Abhängigkeit vom Handy oder Gaming-Sucht gibt, hilft das Team der Suchthilfe in St. Johann gerne. Über das Umfeld kann man – wie bei anderen Suchtarten auch – Einfluss nehmen und einwirken. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es gibt Hilfe. Und das ist die gute Nachricht …
www.suchthilfe.tirol

Doris Martinz