Richard Altenberger war 40 Jahre lang Physiotherapeut im Reha-Zentrum Bad Häring. Er hat Verzweiflung erlebt, aber auch Mut.

Als Richard Anfang der 80er Jahre in den Beruf einsteigt, träumt er davon, Spitzenathleten auf ihren Wettkämpfen zu begleiten. Selbst sportlich sehr ambitioniert, will er coole Dinge erleben, Olympiasieger und Weltmeister unterstützen. Zuvor ist aber noch ein Pflichtpraktikum in Bad Häring zu absolvieren. Richard arbeitet hier mit Schwerstversehrten und Polytraumatisierten; mit Menschen, die Geschichten über tragische Unfälle mitbringen, die physisch und psychisch ganz am Boden sind, wenn sie ins Zentrum kommen. Und die ganz verändert wieder heimgehen. Hier erfährt Richard, dass es im Leben noch andere Inhalte gibt als den Wettkampf um Meter oder Sekunden. Dass es ganz andere therapeutische Ziele gibt als gehen, laufen oder springen zu können.

Neue Ziele

Nach Abschluss seiner Ausbildung beginnt der heute 62-Jährige, mit Querschnittgelähmten zu arbeiten. Er lernt außergewöhnliche Men­schen kennen: Männer und Frauen, die in wirklich schlech­tem Zustand zu ihm kommen – und ohne Perspektive. Gemeinsam mit ihnen setzt er Ziele. „Die Ziele heißen dann halt nicht mehr, ich muss die hundert Meter in 14 Sekunden laufen, sondern ich möchte mich selber anziehen können, Autofahren, arbeiten können“, erzählt Richard.
Er begleitet viele starke Persönlichkeiten wie Matthias Lanzinger oder Kira Grünberg durch ihren Rehabilitationsprozess und erlebt ihre Höhepunkte mit: wenn sie zum ersten Mal aus eigener Kraft aus dem Bett herauskommen, mit dem Rollstuhl ein Hindernis überwinden, zum ersten Mal wieder in die Disco gehen. „Jeder noch so kleine Schritt gibt Mut, Hoffnung und Perspektive. Das ist das Schöne an der Arbeit.“ Doch es gibt auch die belastenden Momente, gerade am Anfang der Behandlung. Richard hat mit der Zeit gelernt, während der Autofahrt vom Arbeitsplatz heim nach St. Johann die Schicksale seiner PatientInnen loszulassen.

Unterwegs

Die Beziehungen zwischen Therapeut und PatientIn sind innig. Denn sie entstehen in einer Lebensphase, in der die PatientInnen einen starken Menschen an ihrer Seite brauchen. Aus dem eigenen Umfeld kommen jene nämlich meist nicht, wie Richard weiß: „Die Familien sind oft noch stärker belastet als die Betroffenen selbst, die Erfolgserlebnisse haben und sich mit anderen vergleichen können. Die Angehörigen haben oft mehr Trauerarbeit zu leisten, um das Geschehene zu überwinden.“
Vier Fünftel der zu Betreuenden im Reha-Zentrum sind übrigens männlich. Schon deshalb, weil Männer beruflich einem größeren Risiko ausgesetzt und auch in der Freizeit risikobereiter sind.
95 Prozent der PatientInnen schaffen es, das Erlebte zu verarbeiten und in ein neues, reiches, wenn auch anderes Leben zurückzukehren. Richard trainiert als Physiotherapeut mit ihnen auch die soziale Kompetenz: Er begleitet sie beim Einkaufen, zeigt ihnen, wie man vom Rollstuhl aus einen Einkaufswagen schiebt. Er geht mit ihnen ins Kino, zu Konzerten. Richard erinnert sich an ein Konzert in Innsbruck, bei dem es einem seiner Schützlinge psychisch plötzlich sehr schlecht geht. Und das bei einem so tollen Konzert? Was ist passiert? „Von wegen super Konzert, ich sehe die ganze Zeit nur Hosentürln und Hintern“, antwortet der Patient. „Man muss sich als Rollstuhlfahrer erst an die neue Perspektive gewöhnen“, erklärt Richard. Das brauche Zeit.
Einmal unternimmt er mit einer Gruppe Rollstuhlbasketballern einen Ausflug nach Wien, man fährt mit der U-Bahn und nutzt dabei die Rolltreppe. Die Männer haben das gelernt. Einer nach dem anderen hängt sich ein und hält sich am Handlauf fest. Bis plötzlich der erste Rollstuhlfahrer nach hinten kippt und den zweiten mitreißt, jener den dritten und so weiter. Es herrscht ein furchtbares Durcheinander an Rollstühlen und Männern. Doch sie lachen, niemand ist verletzt. Seit diesem Ausflug weiß Richard: Es dürfen immer nur zwei Rollstuhlfahrer gleichzeitig die Rolltreppe nehmen. Sonst ist das Gewicht am Handlauf zu groß – er bleibt stehen, während die Treppe weiterfährt …
Richard lernt durch diesen Vorfall, und er lernt auch von gut rehabilitierten PatientInnen, die ihr Leben vorbildlich meistern. Der St. Johanner ist mit SportlerInnen und Mannschaften unterwegs, die im Behindertensport aktiv sind. Von einer Frau mit einem hohen Querschnitt schaut er sich auf einer dieser Reisen Techniken ab, wie sie ins Bett und auf die Toilette kommt – gerade im Sport finden sich Menschen, die hier sehr erfinderisch sind. Richards PatientInnen profitieren davon.
Richard nimmt als Betreuer und später als Klassifizierer (er teilt die SportlerInnen je nach ihren Einschränkungen den jeweiligen Kategorien zu) an acht Paralympics teil. Er reist nach Albertville, Lillehammer, Nagano, Salt Lake City, Turin, Vancouver. Sein Schwerpunkt liegt im Wintersport.

Grundbedürfnisse wollen erfüllt sein

Wer lernt, mit einer Querschnittlähmung zu leben, habe nicht den vordringlichen Wunsch, wieder gehen zu können, berichtet Richard. Das, was am meisten fehle, seien eine normale Blasenfunktion, Stuhlentleerung – und Sex. Aber auch hier gibt es Chancen auf Erfolg und Erfüllung: Der Stuhlgang und die Blasenleerung lassen sich mit einem Zeitmanagement trainieren. Und was die Sexualität betreffe, müsse man lernen, seinen Körper auf andere, neue Weise zu entdecken und Zonen zu finden, die hypersensibel auf Stimulation reagieren. So könne man auch Orgasmen erleben. Ein Höhepunkt durch das Reiben am Ohrläppchen? Wer den Film „Ziemlich beste Freunde“ gesehen hat, mag sich gefragt haben, ob so etwas in Wirklichkeit funktionieren kann. „Kann es“, sagt Richard. „Erfüllende Sexualität auch mit einem Partner oder einer Partnerin ist möglich, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, andere Zugänge zu finden. Und wenn man diese Reise gemeinsam geht.“
In Bad Häring hat Richard vielen Menschen geholfen, in ein lebenswertes Leben zurückzukehren. Er hat ihnen gezeigt, wie man mit dem Rollstuhl Stiegen und Hindernisse überwindet. „Das ist wichtig für das Selbstwertgefühl“, erklärt Richard. Mit einer Gruppe, die schon alles beherrschte, was auf dem Programm stand, suchte er neue Herausforderungen. Und fand sie im Baumkraxeln, vom Rollstuhl aus. Und beim Weitsprung mit dem Rollstuhl: Man nimmt Anlauf und sticht mit dem Rollstuhl in den Sand. Wer am weitesten nach vorne geschleudert wird, hat gewonnen. Das klingt verrückt, aber: „Es ist wichtig, mit den Betroffenen etwas zu wagen, wild zu sein, ans Limit zu gehen. Damit sie sich und ihren Körper ganz stark spüren. Die Action und der Spaß tun der Seele gut.“

Für immer verbunden

In den letzten 13 von den insgesamt 40 Jahren im Reha-Zentrum Bad Häring war Richard Leiter der Physiotherapie und stand einem Team aus 28 Physio- und SporttherapeutInnen vor. Auch nach seiner Pensionierung vor zwei Jahren bleiben die Bande zu seinen ehemaligen KollegInnen bestehen – aber auch jene zu den PatientInnen. „Man steht weiterhin in Kontakt, das ist wie in einer großen Familie.“ Am Tag unseres Gesprächs erhielt Richard die Trauerparte eines ehemaligen Patienten – die Angehörigen schickten sie an ihn. Er gehört in vielen Familien zum inneren Kreis.
Unzählige schöne Momente hat Richard in den 40 Jahren als Physiotherapeut erlebt – Erfolgserlebnisse seiner PatientInnen, die für ihn genauso bedeutend waren wie für sie selbst. Die größten Momente waren aber jene, in denen seine Patienten sich für die Paralympics qualifizierten oder sogar Topplatzierungen erreichten. „Wenn du vor Augen hast, wie sie einst zu dir gekommen sind, als Hascherl und zu Tode betrübt, und dann stehen sie ganz oben auf dem Podest und strahlen vor Glück – das ist unglaublich emotional. Denn du weißt, das ist auch dein Sieg.“
Für seine Arbeit mit Versehrten wurde Richard mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Life-Award“ und mit der goldenen Verdienstmedaille der Republik Österreich. „Darüber freut man sich schon, so eine Auszeichnung ist nicht alltäglich.“ Die Medaille wird Richard immer an das erinnern, was er mit seinen PatientInnen erreichte. Und was im Leben wirklich zählt. Rekorde sind es nicht.

Doris Martinz