Ingrid Pollet über faszinierende Tiere, ihre Arbeit zum Schutz der Seevögel und ihre liebste Vogelart in der Region.

Ich treffe Ingrid im „Weltraum“, im Coworking-Space des Ortsmarketings St. Johann, direkt im Herzen der Marktgemeinde. Hier, im zweiten Stock des Postgebäudes, hat Ingrid Pollet Quartier beziehungsweise ein Büro bezogen. Mit Blick in den Ort und auf einen Baum direkt vor ihrem Fenster, in dessen Krone sich viele verschiedene Spezies an Vögeln tummeln: Spatzen, Meisen, Amseln und Co – die „Verwandtschaft vom Land“ jener Kreaturen, denen Ingrid ihr berufliches Leben widmet: den See- oder Meeresvögeln. Letzte Woche habe sie über „Zoom“ ein Interview mit einem kanadischen Radiosender geführt, erzählt die 48-Jährige. Die Forscherin ist bekannt, ihre Expertise gefragt.
Geboren wurde Ingrid in Frankreich, in einem Skiort nahe Chamonix. Als Kind träumte sie davon, im Erwachsenenalter viel zu reisen. Der Bezug zur Natur war schon immer sehr stark, deshalb entschied sie sich für das Studium der Agrarwissenschaften. Schon bald erkannte sie jedoch, dass Ackerbau und Nutztierzucht doch nicht das Richtige für sie waren, im Alter von 22 Jahren ging sie nach Kanada und arbeitete dort in einem Umweltlabor. Später wechselte sie in ein Krebsforschungszentrum, doch auch das fühlte sich nicht richtig an, sie sehnte sich zurück in den alten Job. Es endete damit, dass Ingrid einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zog, kündigte, ihr Haus verkaufte und alles hinter sich ließ, um für ein Jahr nach Afrika zu gehen. Hier traf sie auf Zebras, Elefanten und Löwen und bekam Einblick in die Vogelwelt des Kontinents. „Ich war fasziniert, alle hatten etwas Besonderes an sich: besondere Farben, ein spezielles Verhalten, die Interaktion mit anderen Vögeln oder Menschen, es war einfach großartig“, erinnert sich Ingrid. Wir sprechen Englisch, die deutsche Sprache fällt ihr schwer. Und weil jeder mit ihr Englisch redet, ist die Motivation, besser Deutsch zu erlernen, gering. „Außerdem verstehe ich kein Wort, wenn ihr im Dialekt redet“, meint Ingrid und rollt mit den Augen, sie lacht.

Zurück in die Schulbank

Als sie nach dem Afrika-Jahr zurück nach Kanada kam, wusste sie, dass sie von nun an mit ihren neuen Lieblings­tieren, den Vögeln, arbeiten wollte. „Schon bald war mir dann klar, dass ich zurück auf die Schulbank musste, wenn ich etwas erreichen wollte“, erzählt sie. Also begann sie im Alter von 35 Jahren ein weiteres Studium, jenes der Meeresvögel, und schloss mit einem akademischen Grad, der in etwa jenem unseres Doktorgrads entspricht, ab. Zu dieser Zeit lernte sie während eines Aufenthalts daheim in Frankreich bei einem Langlauf-Weltcuprennen ihren jetzigen Mann Jean Marc Glaude kennen. Sie mag den Langlauf-Sport, fährt gerne Ski, radelt und wandert auch gerne, man sieht es an der sportlichen Figur. Eigentlich war es Jean Marc, der St. Johann als Wohnort für sich und seine Frau wählte. Er hat das erste „Exoskelett“ für Skifahrer:innen entwickelt – ein Gerät, das die Belastung der Gelenke beim Sport enorm reduziert. Er reist dafür oft in die Wintersportzentren der Alpen, St. Johann ist dafür geografisch optimal gelegen. (Eine interessante Geschichte, über die wir bei Gelegenheit berichten werden.) Ingrid war mit seiner Wahl sehr zufrieden, sie mag die Kitzbüheler Grasberge, die sauberen Gewässer, die Luft, sie fühlt sich hier wohl.

Lieblingsvogel: der Wellenläufer

Seit ihrem Universitätsabschluss forscht Ingrid sowohl für die Uni als auch für die kanadische Regierung. Im Sommer betreibt sie Feldforschung draußen in der Natur, vor Ort in Kanada oder auch andernorts – zwei Sommer verbrachte sie beispielsweise in Russland. Im Winter wertet sie ihre eigenen und die Daten anderer Forscher:innen aus – in St. Johann. Sie schreibt Berichte, beschäftigt sich mit dem Problem, dass Seevögel oft unerwünschter Beifang in der Fischerei sind, sie bearbeitet Thematiken wie die Belastung der Seevögel durch Plastik. Sie erzählt, die Mägen vieler Vögel seien gefüllt damit – sie sterben qualvoll daran. Sie macht ein bekümmertes Gesicht. Es hellt sich aber schnell auf, als ich nach ihrem Lieblingsvogel frage. Es ist der Wellenläufer – ein sehr kleiner, durchschnittlich 45 Gramm leichter Vogel, der vom hohen Norden tausende Kilometer bis nach Südafrika fliegt, um dort zu überwintern. Dabei berührt er nie den Boden, ernährt sich von kleinen Fischen und Großplankton und kommt im Sommer jeden Jahres an dieselbe Brutstätte zurück, um mit immer demselben Partner in einer Erdhöhle ein einziges Ei zu legen. Ingrid erforscht die Spezies auf einer kanadischen Insel. Sie fängt die Tiere, hält Gewicht und andere Daten fest und bringt einen winzigen Sender an, der es möglich macht, ihre Flugroute zu verfolgen.
Mit ihrer Arbeit will Ingrid den Seevögeln helfen, mit menschengemachten Problemen zurechtzukommen, sie will ihr Überleben sichern. Denn die Daten, die sie gewinnt, sind auch Basis für Schutzprojekte. Sie träumt von einer besseren Welt, in der die Menschen andere Krea­turen und ihre Bedürfnisse respektieren. Sie seufzt. Nein, sie glaube eigentlich nicht daran, dass das in absehbarer Zeit geschehen wird, antwortet sie auf meine Frage.

Glücklich im „Weltraum“

Ihr Büro im „Weltraum“ ist zweckmäßig, um nicht zu sagen spartanisch, eingerichtet. Schreibtisch, Bürosessel, Laptop, aus. An den Wänden hätten viele Vogelbilder Platz, meine ich. „Die kommen noch“, sagt Ingrid augenzwinkernd. Sie sei sich zuerst nicht sicher gewesen, ob sie bleiben würde, doch das hat sich geändert. „Das Büro und die Infrastruktur hier im Weltraum sind optimal. Wenn ich Ruhe brauche, mache ich einfach die Tür zu. Wenn ich Lust auf einen Kaffee und Unterhaltung habe, findet sich jemand.“ Zuvor habe sie im Homeoffice gearbeitet, aber das sei auf Dauer keine Lösung gewesen, erzählt sie. Es habe an Platz gefehlt und an Rückzugsmöglichkeiten.

Den ganzen Sommer über verbrachte Ingrid auch heuer wieder in Kanada, während ihr Mann in Europa blieb. Das Ehepaar ist an längere Phasen der räumlichen Trennung gewohnt, das sei kein Pro­blem, so Ingrid. Sie erfreute sich in Kanada am Anblick des Meeres, sie genoss die Natur und den Kontakt zu den See­vögeln. Bis zum Wiedersehen im nächsten Jahr lauscht sie dem Zwitschern der Vögel im Baum vor ihrem Fenster. Und freut sich, wenn sie ihren Lieblingsvogel in unserer Region erspäht: Es ist die Wasseramsel, die ihr Nest am Ufer der Ache baut und auf der Jagd nach Insekten ins Wasser taucht. Optisch sieht sie dem Wellenläufer sogar ein wenig ähnlich …

Doris Martinz