Psychotherapeutin Silvia Rabl über das, was unsere Jugend beschäftigt; über „schlechte Phasen“, Depressionen und das Tabuthema Suizid.

Laurence Krimbacher-Brissonneau und Victoria Ottilie Scherer von der „komm!unity“ in St. Johann sprechen im Artikel in unserer Mai-Ausgabe davon, dass es vielen jungen Leuten derzeit nicht gut geht. Kann Silvia Rabl, Psychotherapeutin mit einer Praxis in St. Johann, das bestätigen? „Ja, definitiv. Viele Kinder und Jugendliche haben sich in der Pandemie zurückgezogen. Sie knüpfen jetzt nicht einfach nahtlos dort an, wo sie vor der Pandemie aufgehört haben. Depressionen, Suizidgedanken, Ritzen, Ängste, Essstörungen….. das betrifft jetzt ganz viele.“
Woran liegt es? Zum Teil sei die schlechte psychische Verfassung von Kindern und Jugendlichen auf den Umstand zurückzuführen, dass in ihrem Alltag so lange vieles nicht mehr verlässlich war, so Rabl: „Die Schule war zu, dann auf; Lehrer waren da und dann wieder in Quarantäne; Ankündigungen wurden gemacht und nicht gehalten; Virologen kommunizierten Sachverhalte, andere widersprachen. Das alles macht Angst.“
Jugendliche wollen autonom sein, sich von den Eltern abnabeln, sie brauchen ihren Freundeskreis. Während der Pandemie mussten sie jedoch über lange Wochen daheimbleiben. Dazu arbeiteten viele Eltern im Homeoffice, die Geschwister hatten Homeschooling. „Das ungewohnte, enge Miteinander brachte in den Familien viele Konflikte“. Jugendliche und Kinder haben außerdem ein sehr feines Gespür für die Sorgen und Ängste ihrer Eltern, so die Therapeutin. Viele haben ihre Sorgen übernommen – auch jene im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Was noch dazu kommt: Kinder und Jugendliche spüren, dass ihre Eltern belastet sind und wollen ihnen nicht auch noch ihre eigenen Problemen „aufhalsen“. So seien viele Kinder und Jugendliche auf Rückzug gegangen, so die Erfahrung der Psychotherapeutin.

Tabuthema Suizidgedanken

Ein Thema, über das kaum geredet wird, sind Suizidgedanken bei Jugendlichen. „Wenn Jugendliche sagen, dass sie am liebsten nicht mehr leben würden, sind die meisten Eltern überfordert“, so die Therapeutin. „Die Eltern wollen nicht über das Thema reden – aus Angst, den/die Jugendliche(n) damit erst auf die Idee des Suizids zu bringen – das ist aber ungerechtfertigt. Gerade in dieser Situation wäre es wichtig, dass man darüber spricht.“ Der Wunsch nach einem Suizid bedeute, so die Therapeutin, dass die oder der Jugendliche die Situation als nicht veränderbar erlebt und nicht weiterleben will. Für die Eltern sind die Suizidgedanken ihres Kindes eine fast nicht zu bewältigende Bedrohung. Die meisten reagieren entweder mit Panik oder blenden das Geschehen aus. Das Problem dabei: „Dann fühlen sich die Jugendlichen nicht wahrgenommen, nicht richtig und unverstanden. Das kann die Verzweiflung verstärken.“ Den wenigsten Eltern gelinge es, mit dem Kind oder Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und ihn zu unterstützen, so Rabl. Sie empfiehlt den Eltern auf Phrasen zu verzichten wie: „Das geht schon vorbei, es ist alles nicht so schlimm, das wird schon wieder“. Es sei wichtig, dass das Kind oder der/die Jugendliche in seinem/ihrem subjektiven Erleben ernst genommen wird. Zugang finde man am ehesten mit Fragen wie: „Was müsste anders sein, damit du das Leben wieder als lebenswert empfindest?“
Die Therapeutin empfiehlt bei Suizidankündigungen von Kindern und Jugendlichen eher früher als später professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Die Einbindung der Eltern ist wichtig. Nicht, weil sie „schuld“ an der Suizidalität sind, sondern weil sie die wichtigsten Ansprechpersonen für Veränderung sind. Es gilt zu verhindern, dass ihre eigenen Ängste sie daran hindern, ihr Kind in dieser schwierigen Situation zu unterstützen. Denn die Jugendlichen brauchen auf ihrem Weg Hilfe.“

Depression oder „normal schlecht drauf“?

Wie erkennen Eltern den Unterschied zwischen dem „normalen Missmut“ Jugendlicher und einer sich anbahnenden Depression, die vielleicht sogar suizidale Gedanken zur Folge haben kann? „Eine Depression ist mehr, als nur nicht gut drauf zu sein oder einen schlechten Tag zu haben: Depressive Jugendliche fühlen sich wertlos, traurig, nicht gesehen, sie beschreiben eine innere Leere, haben Schlafstörungen und/oder kommen in der Früh nicht aus dem Bett – man bezeichnet das auch als Morgentief. Sie haben ein negatives Selbst- oder Körperbild“, beschreibt Silvia Rabl die Symptome. Weitere Anzeichen für eine Depression: Die Betroffenen können sich nur schwer konzentrieren, sind freudlos, lustlos, können sich für nichts begeistern, sie ziehen sich auch vor den FreundInnen zurück und wollen gar nicht mehr raus. Alles was vorher Spaß gemacht hat, ist nicht mehr wichtig.
„Probleme, die ansatzweise schon vor der Krise auftraten, treten jetzt, nach Corona, stärker auf – zum Beispiel Ängste, Panikattacken, Essstörungen und andere psychische Probleme. Die Krise hat alles verstärkt“, weiß die Therapeutin.
Manche Jugendliche geben den Eltern die Schuld an allem. Wie sollte man darauf reagieren?„Zuhören und Position beziehen. Man muss der Schuldzuweisung nicht zustimmen, sollte aber gegebenenfalls Fehler eingestehen.“ Es gebe auch andere Faktoren, die bei psychischen Problemen relevant seien – etwa die Genetik, missglückte Freundschaften oder Liebesbeziehungen, gesellschaftliche Einflüsse … Idealerweise unterstützen Eltern ihre Kinder und Jugendlichen dabei, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln, mit Belastungen umzugehen und Strategien zu entwickeln, wie man mit Problemen umgeht und schwierige Situationen verarbeitet.
Eine Bitte an die Eltern hat die Therapeutin: „Schaut eure Kinder und Jugendlichen an, versucht, die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Und wenn ihr nicht sicher seid, dann holt euch professionelle Hilfe!“ In herausfordernden Zeiten, wie wir sie gerade erleben, ist es wichtig, dass wir füreinander da sind. Das gilt zuallererst für die kleinste Einheit der Gesellschaft, die Familie.

Doris Martinz